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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 28.1917

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Hoeber, Fritz: Peter Behrens' Gartenstadt Lichtenberg bei Berlin: eine gute Lösung des Kleinwohnungsproblems
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https://doi.org/10.11588/diglit.4829#0144

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gleich bleibenden plastischen Einheit des Hauses wird
der räumliche Großrhythmus der Mannigfaltigkeit des
Stadtganzen aufgebaut: eine solche Stadt wird stets
als architektonisch individualisierter Komplex den eigen-
artigen Stil des Einzelhauses, der Gesamtkörper damit
die°Natur seiner Einzelglieder, proportional wieder-
holen. »Die überraschende Wirkung der baulichen
Geschlossenheit alter Städte«, betont A. E. Brinckmann
an verschiedenen Stellen (z. ß. in »Deutsche Stadtbau-
kunst der Vergangenheit«) »wird erreicht durch die
Einheitlichkeit von Material und die Ähnlichkeit der
Hausformen.« Diese erstreckt sich nicht nur auf die
genaue Typisierung von Hausklotz und Dachneigung,
— die Dächer der Siedelung Lichtenberg zeigen alle
einen gleichen Dachquerschnitt, der in seiner Höhe
etwas unter dem gleichseitigen Dreieck bleibt, — son-
dern begreift auch scheinbar untergeordnetere Bauteile,
wie die Fensterabmessungen, die Größe der Haus-
und Stubentüren. Das bedeutet nicht nur ästhetisch,
durch die Wiederkehr einer stets gleichen Form, für
die Fassade den Vorteil innerer Ruhe und Zusammen-
gehörigkeit, sondern schafft auch als praktisches Er-
gebnis die Möglichkeit baulicher Ersparnis, indem das
gleiche Modell mehrere hundert Mal angefertigt werden
kann. — Diese praktisch und ästhetisch gleich vorteil-
hafte Typik kann sogar noch auf die Inneneinrichtung
der Kleinwohnungen übergreifen: musterhafte Vorbil-
der lieferten dazu jene »Typenmöbel«, die Peter Beh-
rens im Frühjahr 1912 im Berliner Gewerkschaftshaus
zeigte, die Einrichtung einer Arbeiterfamilie von Küche,
Wohn- und Schlafzimmer.1)

Freilich eine merkwürdige Tatsache ist es, wie sehr
sich der heutige Philister, in einer Art von spießbürger-
lichem Individualitätsdünkel, gegen die Typisierung
der Wohnformen sträubt: wohl gibt er zu, daß seine
Lebensbedürfnisse, in ihrem materiellen Ausmaß und
ihrer von Zeit und Ort geregelten Befriedigung, typisch
sind und stets sein werden. Aber die logische Folge-
rung, die er bereits für seine durch die »Mode« nor-
mierte, in typisierender Bescheidenheit sich einer größe-
ren Gesamtheit unterordnende Kleidung gezogen hat,
nun auch für seine Wohnungsgewohnheiten förmlich
durchzuführen, davor hält ihn seine letzte Eitelkeit zu-
rück: Mag der Grundriß seines Hauses die sozial glei-
chen Anforderungen auch gleichmäßig wiedergeben,
in der »ästhetisch abstrakten« Fassade will er in eigen-
sinniger Romantik das »originelle« Frätzchen wahren;
eine höchst verhängnisvolle Verwechslung von »Per-
sonalkultur« und »Sachkultur«, gegen die auch Richard
Hamann gelegentlich Stellung genommen hat! —
Sehr mit Recht rügt endlich auch A. E. Brinckmann
diesen immer noch herrschenden Irrtum, dieses weit-
verbreitete individualistische Vorurteil, wenn er schreibt:
»Uns allen ist klar, daß gegen die schrankenlose Willkür,
mit der sich die einzelnen Glieder putzen, die Stadt
als Gesamtorganismus ein Recht hat, einzuschreiten
und dafür zu sorgen, daß jeder Rücksicht auf seinen
Nachbar, auf seine Umgebung nimmt.«2)

1) Vgl. Das Arbeiter/nobel. Zwei Typen nach Entwürfen
von Prof. Peter Behrens und Hermann Münchhausen. Ver-

V. DAS BAUKÜNSTLERISCHE ERGEBNIS

Schon oft wurde hervorgehoben, daß jede Kunst-
betrachtung, die nur den gefühlsmäßigen Eindruck
auf den Beschauer wiedergibt, geringen Aufschluß über
das objektive Wesen des Kunstwerkes selbst gewähren
kann. Der methodisch richtigere Weg ist jedenfalls
der, der von der Gestaltung durch den Künstler selbst
ausgeht, d. h. das Werden des Kunstwerks in seinen
verschiedenen Entstehungsstadien, seinen Entwürfen
oder vorbereitenden Arbeiten, zu verfolgen sucht.3) —
In diesem Sinn erscheinen als Vorstadien zu der Klein-
siedelung Lichtenberg von 1915—16 Behrens' stadt-
bauliche Arbeiten für Eppenhausen bei Hagen i. Westf.
von 1907, für Neuß von 1910 und für Merseburg
von 1912. Vergegenwärtigt man sich die damit be-
zeichnete baukünstlerische Entwicklungslinie, so treten
in ihr als die beiden Hauptmomente hervor: pia-
tische Bereicherung und Lockerung der geometrischen
Starrheit der Achsenbeziehungen und der Fluchtlinien.
Peter Behrens hat nichts von seiner architektonisch
wundervollen Strenge, seiner raumbeherrschenden
Männlichkeit aufgegeben, wenn auch jener dogmatische
Kubismus seiner Anfangsarbeiten sich durch eine
Empfindung für das Heimelige und Gemütliche, in
optischer Hinsicht Malerische, differenziert und ver-
feinert hat.

lag der Kommission für vorbildliche Arbeiterwohnungen im
Gewerkschaftshause. Berlin SO. 16; ferner Deutsche Kunst
und Dekoration, Mai 1912, und Kunstgewerbeblatt, Juni 1912.

2) A. E. Brinckmann, Beziehungen alter und neuer
Stadtbaukunst. Vortrag gehalten am 16. Dezember 1912
im Architektenverein Berlin. (Wochenschrift des Archi-
tektenvereins Berlin. VIII. Jahrg. Nr. 7 und 8.)

3) Vgl. A. E. Brinckmann, Vom Vorstellen und Ge-
stalten des Kunstwerks (Der Tag. Illustr. Teil. 12. und
13. Dezember 1916. Nr. 291 und 292). Die Kunstwissen-
schaft hat sich fast ausschließlich um die ästhetische Aus-
legung des fertigen Werks vor eben diesem fertigen Werk
bemüht. Man wird aber die Anschauung gewordener
Formvorstellungen nur teilweise oder gar nur äußerlich
verstehen, wenn man sich einzig um das Endergebnis
kümmert. Denn hier nimmt die rezeptive Vorstellung nur
auf, was sie anspricht. — Wir haften am Einzelnen, ohne
der Gesamtheit des Vorstellungsprozesses, aus dem das
Kunstwerk ein Querschnitt ist, näher zu kommen, falls wir
nicht befähigt sind, den Vorgang werdender Vorstellungen
gegenüber dem endgültigen Kunstwerk nacherlebt zu haben.
— Wir werden ja auch einem Menschen nicht gerecht, wenn
wir aus seinem steten Werden einen Moment herausgreifen,
wir verstehen einen philosophischen Gedanken ohne Prä-
missen und Folgerungen nicht; dem Kunstwerk aber, das
doch auch nur Teil eines größeren steten Werdens ist,
glauben wir, diese abtötende Isolierung zumuten zu können.
Was uns not tut, ist eine evolutionistische Betrachtungsweise
auch dem Kunstwerk gegenüber, nicht einzig die Analyse
eines nach vorwärts und rückwärts begrenzten Schaustücks.
Man hat philosophisch, selbst rezeptiv, noch nicht denken
gelernt, wenn man einige Sentenzen kennt, ebenso bleibt
das Reich des künstlerischen Gedankens dem fremd, der
nur Ergebnisse sieht, dem Werden dieser Ergebnisse aber
nicht nachzudenken vermag. Das Mit- und Nachdenken
des künstlerischen Vorstellungsgangs bleibt eine Aufgabe, die
noch unendlich viel zu erfüllen hat: denn einzig sie führt
aus der Oberfläche in die Tiefe des Kunstwerkes ein! —

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