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Das neue Frankfurt: internationale Monatsschrift für die Probleme kultureller Neugestaltung — 1.1926/​1927

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Renner, Paul: Vom Stammbaum der Schrift
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https://doi.org/10.11588/diglit.17290#0117

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1 ttrtXrtC flt^ t^Cfl^ ttt^jl C'en m^or^cnen Stilen fefthalte. Gotik, Renaiffance, Barock und Rokoko find alle
. i Jj vi.i A«* früher einmal aus Italien oder Frankreich auf ihren Weg durch Europa zu uns

UlliUplj*-|J'llf| FiUJH^IC^ gekommen. Warum follen wir denn dem neuen europäifchen Bauftil die Tür
tH4 ttQttft* tl$||4*fÜllw verfchliefjen ? Wir wiffen auch garnicht fo beftimmt, ob feine Wiege nicht doch

* in Deutfchland geftanden hat?

B'id 3i: gotische schrift l. jh. Man wird verftehen, weshalb nur die Antiqua die Schrift des neuen Bauftiles

fein kann. Nicht, weil fie „international", fondern weil fie die „menfchlichfte"
unferer Schriften ift; die, welche fich am wenigften an Spezialifierungen ver-
loren hat. Und wer fich durch den Vordergrund der legten fünfzig Jahre nicht
beirren läfjt, wird erkennen, dafj fie allein fich auch noch im neunzehnten
Jahrhundert eigener Vitalität weitergebildet hat zu Formen, die der Formwille
unferer Zeit faft unverändert hat übernehmen können. Seit Erfindung der
Buchdruckerkunft war die Type immer exakter, immer präzifer geworden. Sie
hatte ganz den Charakter der gefchriebenen Schrift verloren: fie war mafchinell
hergeftelltesLefe-Zeichen. Bevor die Hochflut der hiftorifchen und künftlerifchen
Schriften über uns hereinbrach, gab es in Europa eine „franzöfifche" Antiqua
im Stile Didots und daneben als jüngftes Kind der Schriftenfamilie die„Stein-
fchrift", die wir heute „Grotesk" nennen. Es waren unperfönliche, konftruierte,
der mafchinellen Exaktheit des modernen Letterguffes angemeffene Formen.
Dann brach das Kunftgewerbe aus: die Schreibkunft wurde wieder entdeckt.
Der Erfolg ift, dafj wir in hiftorifierenden und hiftorifchen Schriften erfticken.
Die Zeit ruft zur Entfcheidung. Aus all diefen Sackgassen führt nur ein Weg
auf die „menfchliche" Bahn zurück, auf den noch nicht verfperrten Weg nach
oben. Und das Paradoxe an der heutigen Situation ift, dafj diefer Weg uns
über die Mechanifierung führt. Wir find gewifj weit genug entfernt vom
„quellenden Urgrund"; aber am weiteften dort, wo wir aus alten Kunftformen
neue züchten wollen. Am nächften find wir dem mütterlichen Boden, wenn
wir endlich wieder mit den unabänderlichen Tatfachen des Lebens rechnen,
das uns die künftlerifchen Aufgaben ftellt. Wir müffen ein neues Konto mit
gründlich revidiertem Werkbeftand eröffnen. Die aus den Schreibwerkzeugen
ftammende Formdifferenzierung ift bei unferen Drucktypen ebenfo finnlos wie
die vorwärtsdrängende Dynamik. Das Bild unferer Druckfchriften wird nicht,
wie bei einer gefchriebenen Schrift, von links nach rechts auf das Papier ge-
Bild 32- römische Kapitalschrift Ii jh worfen; es fenkt fich mit einem Druck von oben herab. Die Schrift der Zukunft

wird zum redlichen Ausdruck für alle diefe technifchen Vorgänge werden
ARCIVIW\Ut S; V lSATER H S V müffen. Kunft ift gewilj nicht das Produkt aus Rohftoff, Gebrauchszweck und
ILLICOIFICI ANTLxtjT.ISNlTR1 Technik. Aber die technifchen Bedingungen des Arbeitsprozeffes find die
H ICSI l Rl UM l%l GVVSNIOV „Natur", der jeder fchöpferifche Menfch ganz zugewendet ift. Das künftlerifche
All,£RISISlDIMIO>JSAS.GtSS ift ja eine Modalität des Erlebens, des Erlebens von Menfchen, Tieren, Blumen
tlSEGN;EMP A1ILIU51TVDVRL und Dingen; nicht des Erlebens von Kunft.
'AVI. INI LiWAS l RESMVIATOS
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