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Das neue Frankfurt: internationale Monatsschrift für die Probleme kultureller Neugestaltung — 1.1926/​1927

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Scherchen, Hermann: Die gegenwärtige Situation der Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.17290#0188

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lichkeit (deren einziges Gemeinfame die gleiche geldliche Erwerbung einer
Eintrittskarte ift) bekommt ebenfo zufällige Kunftwerke in gleich zufälliger
Aufführungsqualität zu Gehör gebracht.

(Die Faktoren des Konzerts find: Schaffende — die Komponiften, Ver-
mittelnde — Dirigenten, Soliften, Chöre, Orchefter (die Menfchen), Kon-
zertinftitute, Theater (die Organifationen), Aufnehmende — Konzertpu-
blikum, Theaferbefucher, Künftlernachwuchs).

Es ift nur natürlich, daß diefer Kunftbetrieb unferer Tage ausfchließlich in der
ifolierten Form des Konzerts befteht und vor fich geht abfeits vom Volke und
unbefchwert durch andere als beftenfalls gefchmacksmäßige Bindungen.
Dennoch zeigen fich Spuren der alten Mufikgemeinfchaft in den Formen des
Arbeiterchorgefanges und der Mufikantengilde. Beide werden getragen von
einem bindenden Gemeinfchaftsgefühl und beide erftreben kunftmäßige
Aktivität der Beteiligten. Die große Maffe des Volkes genießt Mufik als Film-,
Cafehaus- und ganz allgemein Vergnügungsmufik. Diele Art der Mufik ift
wieder nur fchlecht angewandte, fchlechte Konzertmufik. Daneben ftehen
gleichermaßen ifoliert die mufikalifchen Bildungsmittel:
Lehrinftifute (Kirchenmufik, Schulgefang; Lehrernachwuchs)
Hochfchulen (Künftlernachwuchs)
Schulgefangftunden (Elementarmufikwiffen).

Betrachten wir die gegenwärtige Situation der Mufik gemäß unferer Erkennt-
nis: „Die Höhepunkte des kollektiven Empfindens find Höhepunkte derMufik",
fo wird die Frage der Mufik zu einer Frage der Gemeinfchaft. Mehr als je
ftehen wir inmitten gefellfchaftlicher Auflöfung. Für ein ganzes Volk gleicher-
maßen verbindliche allgemeine Bindungen exiftieren nirgends mehr: weder
als Kultus der Religion, noch als natürliche Gliederung des Volkslebens —
alle Kräfte find in der Verwandlung, im Neubilden. Mit diefer Auflöfung
aber werden die Einzelnen fich der Gefamtlage bewußt, beginnt ihre eigene
Not die Not der Mufik zu erhellen. Und da als Vorausfeßung der Gefundung
das natürlich tragende kollektive Empfinden fehlt, ein dies ermöglichendes
Allgemein-Bewußffein fich alfo gewaltfam nicht fchaffen läßt, wird umgekehrt
verfucht, die Äußerungen der Mufik fo neu zu formen, als wären fie Ausdruck
einer organifchen Gefamtheit.

Diefes Verhalten der .Mufik gegenüber, das heut allenthalben fichtbar wird,
ift der wertvolle Beginn einer Selbftbefinnung, die als Kritik aller Erfchei-
nungsformen des Mufiklebens eingelegt hat.

Die Produzierenden erkennen ihre Ifoliertheit, verfuchen durch Einbe-
ziehen der Unterhaltungsmufik (der Jazz, der Tanzformen) äußerlich ihre Wir-
kungsmöglichkeifen zu erweitern; fie vermeiden das Experiment als Selbff-
zweck und ftreben zur, ohne virtuofe Fähigkeiten, fpielbaren Kunftmufik.
Die Reproduzierenden beginnen zu verftehen, daß der heutige Typ des

Bild 19: NEGERTROMMEL

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