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P. Lehmann
lingische und noch ältere Erzeugnisse aufbewahrt,
lateinische, irische und deutsche. Deutsche Sprach-
denkmäler stehen in den Augienses für die ältere
Zeit vor allem in der Form von Glossen. Geringer
an Zahl, aber auch zum Teil von hervorragendem
Wert sind die romanischen Glossen. Im übrigen
kommen die Vulgär sprachen mehr in den Co-
dices chartacei zu Worte.
Die Papierhandschriften der Reichenau haben die
Forschung bisher weniger gefesselt, da sie nicht
so zahlreich sind, was allein schon bezeichnend
ist, und da sie in der Hauptsache Literatur beider
Rechte, der Homiletik, Liturgik, Rhetorik und
Grammatik bieten, die wir aus anderen Biblio-
theken zumeist besser kennenlernen können. Inter-
essantes gibt es jedoch auch unter den 164 char-
tacei Augienses in Karlsruhe, so in Kod. 36 ein
Orationale mit vielen kirchlichen Liedern; in
Kod. 72 einen Hymnarius Latino-Teutonicus, der
in Rottweil am Ende des Mittelalters entstandene
deutsche Übersetzungen lateinischer Hymnen ent-
hält; in den umfangreichen Textsammlungen der
großen Reformhonzilien; in den Predigtbüchern
mit ihren vielen Sinnsprüchen, Parabeln und
Anekdoten; in vielen gelegentlich gegebenen
deutschen Erklärungen; in Berichten wie jenem
des Kod. 78, wo vom Ostgotenhönig Theoderich
dem Großen nicht nur nach der kirchlichen Le-
gende, sondern auch nach der Überlieferung der
deutschen Volksbücher erzählt wird: De online
regis Theodrici, quem vulgus Diethrich von Bern
appellat, quantum ex quodam Theuthonicorum
libro accepimus, tantum hie annotare curavimus—.
Was für krauses, aber amüsantes, kulturhistorisch
anziehendes Zeug bringt 1451 der Eichstätter
Pleban Wilhelm Recher in Kod. 92 der Karls-
ruher Augienses, wenn er vermerkt, Trier wäre
1200 Jahre vor Rom erbaut, wenn er von bösen
und guten Päpsten erzählt, von König Heinrich I.
dem Vogelsteller, den er ,de Brünswig" nennt,
drei Jahre lang trotz päpstlicher Exkommunikation
die Kaiserkrone ausschlagen läßt, von der Hin-
richtung des Staufers Konradin und seinem zeit-
weiligen Nachfolger, einem Schmied Stock von
Ochsenfurt, etc. etc.! Viele Einzelnotizen, die in
den Manuskripten stehen, sind mindestens für
Orts-, Personen- und Sittengeschichte von Belang.
Gewiß, es sind vielfach Kleinigkeiten, es sind
nicht Reichenauer Größen vom Schlage eines Re-
ginbert, eines Walahfrid, eines Hermannus Con-
tractus, die sich da verewigt haben, aber auch aus
den Papierhandschriften strömt uns das entgegen,
was wir Forscher erfassen und schildern möchten:
das bunte, bewegte mittelalterliche Leben.
Jubiläumsmedaille 1924/Josef Bernhart-München
P. Lehmann
lingische und noch ältere Erzeugnisse aufbewahrt,
lateinische, irische und deutsche. Deutsche Sprach-
denkmäler stehen in den Augienses für die ältere
Zeit vor allem in der Form von Glossen. Geringer
an Zahl, aber auch zum Teil von hervorragendem
Wert sind die romanischen Glossen. Im übrigen
kommen die Vulgär sprachen mehr in den Co-
dices chartacei zu Worte.
Die Papierhandschriften der Reichenau haben die
Forschung bisher weniger gefesselt, da sie nicht
so zahlreich sind, was allein schon bezeichnend
ist, und da sie in der Hauptsache Literatur beider
Rechte, der Homiletik, Liturgik, Rhetorik und
Grammatik bieten, die wir aus anderen Biblio-
theken zumeist besser kennenlernen können. Inter-
essantes gibt es jedoch auch unter den 164 char-
tacei Augienses in Karlsruhe, so in Kod. 36 ein
Orationale mit vielen kirchlichen Liedern; in
Kod. 72 einen Hymnarius Latino-Teutonicus, der
in Rottweil am Ende des Mittelalters entstandene
deutsche Übersetzungen lateinischer Hymnen ent-
hält; in den umfangreichen Textsammlungen der
großen Reformhonzilien; in den Predigtbüchern
mit ihren vielen Sinnsprüchen, Parabeln und
Anekdoten; in vielen gelegentlich gegebenen
deutschen Erklärungen; in Berichten wie jenem
des Kod. 78, wo vom Ostgotenhönig Theoderich
dem Großen nicht nur nach der kirchlichen Le-
gende, sondern auch nach der Überlieferung der
deutschen Volksbücher erzählt wird: De online
regis Theodrici, quem vulgus Diethrich von Bern
appellat, quantum ex quodam Theuthonicorum
libro accepimus, tantum hie annotare curavimus—.
Was für krauses, aber amüsantes, kulturhistorisch
anziehendes Zeug bringt 1451 der Eichstätter
Pleban Wilhelm Recher in Kod. 92 der Karls-
ruher Augienses, wenn er vermerkt, Trier wäre
1200 Jahre vor Rom erbaut, wenn er von bösen
und guten Päpsten erzählt, von König Heinrich I.
dem Vogelsteller, den er ,de Brünswig" nennt,
drei Jahre lang trotz päpstlicher Exkommunikation
die Kaiserkrone ausschlagen läßt, von der Hin-
richtung des Staufers Konradin und seinem zeit-
weiligen Nachfolger, einem Schmied Stock von
Ochsenfurt, etc. etc.! Viele Einzelnotizen, die in
den Manuskripten stehen, sind mindestens für
Orts-, Personen- und Sittengeschichte von Belang.
Gewiß, es sind vielfach Kleinigkeiten, es sind
nicht Reichenauer Größen vom Schlage eines Re-
ginbert, eines Walahfrid, eines Hermannus Con-
tractus, die sich da verewigt haben, aber auch aus
den Papierhandschriften strömt uns das entgegen,
was wir Forscher erfassen und schildern möchten:
das bunte, bewegte mittelalterliche Leben.
Jubiläumsmedaille 1924/Josef Bernhart-München