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Albert, Peter P.; Beyerle, Konrad [Hrsg.]
Die Kultur der Abtei Reichenau: Erinnerungsschrift zur zwölfhundertsten Wiederkehr des Gründungsjahres des Inselklosters 724-1924 (2. Halbband) — München: Verlag der Muenchner Drucke, 1925

DOI Kapitel:
Wissenschaft und Kunst des Klosters
DOI Artikel:
Dieterich, Julius Reinhard: Die Geschichtsschreibung der Reichenau
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https://doi.org/10.11588/diglit.61011#0173

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DIE GESCHICHTSCHREIBUNG DER REICHENAU
ARCHIVDIR. DR. JUL. REINH. DIETERICH/ DARMSTADT



Reichenau und st. gallen i
Diese beiden Namen verkörpern vielen den
Begriff vom mittelalterlichen deutschen Kloster-
leben. Dem Geschichtskundigen fallen dabei un-
willkürlich die bunten, lebensvollen Schilderungen
vom Leben und Treiben der St. Galier Mönche in
den Casus S. Galli aus der Feder Ekkehards IV.
ein. Andere erinnern sich der St. Galier Kapitel in
Scheffels die Casus St. Galli mit dem Schimmer
der Poesie verklärendem Roman. Den Schauplatz
der Casus und des Romans malt sich mancher da-
bei nach Art des in vielen Wiedergaben verbrei-
teten Baurisses des Klosters St. Gallen vom
Jahre 820 aus.
So wenig wie dieser Bauriß, der nur das nie-
mals ganz ausgeführte Idealbild der Baulich-
keiten, Höfe und Gärten eines mittelalterlichen
Klosters darstellt, entsprechen die Schilderungen

Ekkehards IV. der Wirklichkeit. So dankenswert
sie durch die Fülle ihrer kulturhistorischen Ein-
zelheiten sind, so unzuverlässig sind sie in ihren
historischen Daten.
Bei Ekkehard IV. wie bei Scheffel kommt neben
St. Gallen das Nachbarkloster Reichenau nicht
zum besten weg. Es bildet den dunkeln Hinter-
grund, von dem sich das glänzende Bild der Stif-
tung des heiligen Gall um so leuchtender abhebt.
Die Wirklichkeit war anders. Im ersten Jahr-
hundert ihres Bestehens hat, wie auf diesen Blät-
tern schon oben mehrfach beleuchtet, von beiden
Klöstern Reichenau unbedingt die Führung ge-
habt. Es stand schon zu einer Zeit literarisch,
wirtschaftlich und politisch in hoher Blüte, als
St. Gallen noch in seinen Anfängen steckte.
Auch in wissenschaftlicher Hinsicht hat St. Gal-
len bis hinab zur Zeit Hermanns des Lahmen von
Reichenau keineswegs die überragende Rolle im
Geistesleben Deutschlands gespielt, die ihm die
Casus St. Galli zuzuweisen scheinen. Auch hierin
ging ihm Reichenau vorauf und hat vielfach die

Lehrmeisterin der jüngeren Schwester gespielt.
Bezeichnend dafür ist die Tatsache, daß die erste
lesbare Lebensbeschreibung des hL Gall
nicht in St. Gallen selbst, sondern in Reichenau
geschrieben wurde. Der Reichenauer Mönch
Wetti faßte sie im Auftrage des St. Galier Abts
Gozbert ab. Etwa dreißig Jahre später ist sie,
wieder von einem Reichenauer, dem berühmten
Abte Walahfrid Strabo, in besseres Latein um-
geschrieben worden. Derselbe Walahfrid hat
auch das von dem St. Galier Gozbert verfaßte
Leben des hl. Othmar, des Neubegründers von
St. Gallen, überarbeitet, das Leben des hl. Gall
noch einmal in Versen behandelt und ein Buch
über die Wunder dieses Heiligen geschrieben.
Wetti und Walahfrid könnten wir an die Spitze
der Reichenauer Geschichtschreiber stellen, wäre
der Ertrag ihrer Heiligenleben, Trans-
lat i o n s - und Wunderberichte nicht so
überaus arm an historischen Nachrichten. Sie tei-
len diesen Mangel mit zahlreichen anderen Rei-
chenauer Schriften auf dem Gebiete der Hagio-
graphie. Denn das Kloster des heiligen Pirmin
hat, das zeigen uns, mehr noch als die erhaltenen,
seine vielen nur dem Namen nach überlieferten
Heiligenleben, seinen vollbemessenen Anteil an
diesem Zweige der mittelalterlichen Literatur ge-
habt. Wie die Mehrzahl dieser Erzeugnisse klö-
sterlicher Frömmigkeit haben auch die Reichen-
auer Legenden fast ausschließlich der Erbauung
gedient, gelegentlich wohl auch, wenn es darauf
ankam, die Echtheit der Reliquien des Klosters
zu verteidigen, apologetischen Zwecken. Was sie
an brauchbaren Nachrichten zur Kloster- und
Reichsgeschichte bringen, trägt beiläufigen und
zufälligen Charakter. Ihre Verfasser, von denen
wir in den meisten Fällen nicht einmal den Namen
kennen, rechnen nicht zu den Geschichtschreibern
des Klosters.
Zu den Erzeugnissen des Reichenauer Schrift-
 
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