Blick auf Reichenau, — Oberzell von Osten. Flugzeugaufnahme
DIE MONUMENTALMALEREI DER REICHENAU
PROFESSOR J. SAU ER / FREIBURG I. BR.
Das alemannische inselklo-
ster brauchte ein volles Jahrhundert, bis es
zu eigentlicher künstlerischer Tätigkeit gereift
sich zeigte.*) Für den, der die unruhige und ver-
worrene Geschichte seines ersten Säculum kennt,
wird dieser Tatbestand kaum überraschend sein.
Mit dem Eintritt jener großen Persönlichkeiten
von internationalen Beziehungen und allseitigen
Interessen in seine Geschichte erwachten vom An-
fang des 9. Jahrhunderts an auch seine künstle-
rischen Bedürfnisse. Das äußert sich schon gleich
unter Abt Hatto im Bau einer monumentalen
Klosterkirche, deren Weihe 816 Festgäste von
weither, auch vom Hofe Ludwigs des Fr. heran-
zog. Aus dieser Zeit liegen auch die ältesten
Proben von Buchmalerei vor in dem für den Abt
Bertrich von Schuttern zu Anfang des 9. Jahr-
hunderts geschriebenen und mit reich gefaß-
ten Canonestafeln und Zierinitialen geschmück-
ten Evangeliar im Besitz des Lord Leicester
zu Holkham Hall in England.1) Die Münster-
kircbe ist den Gepflogenheiten jener Zeit
entsprechend gewiß nicht ohne malerischen
Schmuck geblieben, wie sie nach den dürftigen
Schranhenresten2) zu schließen auch nicht ohne
jede plastische Verzierung war. Indes liegt die
Frühgeschichte der Reichenauer Monumental-
malerei während der ersten anderthalb Jahrhun-
derte völlig im Dunkel.
Nur flüchtige Streiflichter fallen aus dieser Zeit
auf sie, stark genug, uns zu zeigen, daß wir mit
einer solchen rechnen können, im Unterschied
von dem Schwesterkloster St. Gallen, das seine
künstlerischen Energien fast ausschließlich in der
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