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Albert, Peter P.; Beyerle, Konrad [Hrsg.]
Die Kultur der Abtei Reichenau: Erinnerungsschrift zur zwölfhundertsten Wiederkehr des Gründungsjahres des Inselklosters 724-1924 (2. Halbband) — München: Verlag der Muenchner Drucke, 1925

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Wissenschaft und Kunst des Klosters
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Künstle, Karl: Die Theologie der Reichenau
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https://doi.org/10.11588/diglit.61011#0104

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704

K. Künstle

vor seine Kräfte verbraucht waren, legte er beide
Ämter nieder und zog sich in seine Eigenzelle
nach Reichenau-Oberzell zurück, um der Stätte
nahe zu sein, an der er seine arbeitsfreudigsten
Lebensjahre zugebracht hatte. Als im Spätherbst
des Jahres 824 Wettin, sein Jugendfreund, zum
Sterben sich anschickte, stand er ihm bei. Er
redete mit ihm über das andere Leben und las
ihm aus den Dialogen Gregors d. Gr. vor, in denen
sich der heilige Papst ja oft mit den Geschicken
seiner Zeitgenossen im Jenseits beschäftigt. Da-
durch wurde Wettin zu ähnlichen Gedankengängen
veranlaßt, und Hatto hat aus dieser Situation
heraus die ,Visio Wettinf geschrieben.3) Die
äußere Anregung dazu gab ihm wahrscheinlich die
Schilderung der Fegfeuerstrafen des Abtes Ful-
rad von St. Denis, die ein unbekannter Kleriker
ihm damals widmete (Visio cuiusdam clerici de
poenis Fulradi in purgatorio).4) Überhaupt bin
ich der Meinung, daß die Visio Wettini die von
Hatto erfundene literarische Form ist, in der
er seine Gespräche mit dem sterbenden heilig-
mäßigen Freunde, anknüpfend an die Dialoge
Gregors, die er ihm vorlas, niederlegte. Das
meiste von dem, was Wettin in seinen Visionen
,schaute4, sind Gedanken und Urteile, die dem
Exabte kamen, als er in der Stille seines Eigen-
klösterleins in Oberzell auf die Menschen zurück-
blickte, mit denen ihn sein gesegnetes Leben zu-
sammenführte. Es waren dies vor allem W a 1 d o,
mit dem er lange Jahre in Reichenau wirkte,
der aber später infolge seiner Berufung an den
Hof des Kaisers ganz zum Welt- und Staatsmann
geworden war. In aller Erinnerung lebte damals
noch der große Kaiser Karl, den viele wie einen
Heiligen verehrten. Hatto, der in seinen Diensten
gestanden, kannte aber die sittlichen Schwächen
des Imperators besser als die meisten der noch
Lebenden. Dazu kommen die C o m 11 e s, die
Gaugrafen, als Vertreter der lokalen Regierungs-
gewalt, mit denen Hatto als Verwalter des aus-

gedehnten Klosterbesitzes wohl manchen Strauß
auszufechten hatte. Man versteht darum, warum
nur Waldo, Kaiser Karl und die Comites
allein unter den im Fegfeuer Gepeinigten klar
und deutlich hervortreten. Der sittenstrenge und
etwas schulmeisterlich gerichtete Hatto konnte
in dieser Form an Männern, die von allen aufs
höchste geachtet wurden, die er aber besser als
die übrigen kannte, Kritik üben; und er mochte
es für seine Pflicht halten, seinen Zeitgenossen
klarzumachen, daß diese einst auf den Höhen
der Menschheit wandelnden Persönlichkeiten nicht
in allewege als Ideale des sittlichen Lebens gel-
ten dürfen.
Hatto hat sich mit seiner Schilderung der Wande-
rung Wettins durch die drei Reiche des Jenseits in
schlichter Prosa nicht den Ruhm erworben, den
sein Schüler Walahfrid fand, als er, ganz an
Hatto — mit Ausnahme der Episode über die
berühmten Lehrer im Inselkloster — sich an-
schließend, die Vision in Hexametern schilderte.5)
Der Grund liegt in der großen Vorliebe, die das
frühe Mittelalter für poetische Schilderungen
hatte. Sachlich und auch literarisch möchte ich
der Darstellung Hattos den Vorzug geben vor
der des Walahfrid mit ihren schwülstigen und viel-
fach an fremdes Gut gemahnenden Versen.
Reginbert, der hervorragende Mönch und Mit-
arbeiter Hattos, war nicht bloß Bibliothekar im
Inselkloster, Büchersammler und Schreiber kost-
barer Handschriften; er war auch Theologe, der
mit wissenschaftlichem Verständnis und guter
Kenntnis in der patristischen Literatur die theo-
logischen Handbücher für die Klosterschule
schuf. Dazu gehört eine Reihe von Reichenauer
Handschriften, die unter Reginbert geschrieben
und inhaltlich von ihm zu Reichenauer Unterrichts-
zwecken zusammengestellt wurden. Ich rechne
dazu vor allem Cod. Aug. XVIII, den Regin-
bert um das Jahr 806 fast ganz mit eigener Hand
geschrieben hat. 6) Auch in dem fragmentarischen
 
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