Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Dürer, Albrecht; Rupprich, Hans [Editor]
Schriftlicher Nachlaß (Band 2): Die Anfänge der theoretischen Studien ; das Lehrbuch der Malerei: von der Maß der Menschen, der Pferde, der Gebäude ; von der Perspektive ; von Farben ; ein Unterricht alle Maß zu ändern — Berlin, 1966

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.29732#0102

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
II. DAS LEHRBUCH DER MALEREI

Eine besondere Bewandtnis hat es mit der Niederschrift Nr. io. Wie man es auch aus dem fremden Ent-
wurfe zur Widmung der Proportionslehre von 1523 an Pirckheimer (Bd. I, S. 97 ff.) und aus Dürers Kritik
eines Entwurfes (Bd. I, S. 100 f.) ersehen kann, hat Dürer irgendwie das Gefühl gehabt, daß die Darlegung
seiner Gedanken für die geplante Einleitung in sprachlich formaler Hinsicht nicht ganz den Anforderungen
der wissenschaftlichen deutschen Literatursprache genüge. Er ließ daher von einem der älteren Generation
angehörigen Freunde die Hauptideen, auf die es ihm ankam, und die Anweisung zur Anfertigung des Teilers
in ein gelehrteres und den Regeln der damaligen Rhetorik gemäßeres Deutsch transponieren. Die Erhaltung
der gesamten darauf bezüglichen Materialien ist meines Wissens in der deutschen Stilgeschichte der Zeit ein
einmaliger Fall.

*

Aus der Niederschrift Nr. 1 geht auch hervor, daß einer der Ausgangspunkte für die Proportionsforschung
des jungen Dürer die Lehre von den Temperamenten gewesen ist1. Diese schon in der Antike bei Hippo-
krates erscheinende, dann u. a. von Galen ausgebaute Theorie suchte die Konstitution des Menschen als
besondere Beschaffenheit sowie die seelischen Unterschiede durch ungleiche Mischung der vier körperlichen
Grundsäfte zu erklären und unterschied die bekannten vier schicksalhaften Veranlagungen und Typen San-
guiniker, Choleriker, Phlegmatiker, Melancholiker.

Dürer kam mit der Temperamentenlehre zunächst in ihrer spätmittelalterlich-deutschen, dann in der neu-
platonisch-italienischen Auffassung in Berührung. Schon in jedem Königspergischen Kalender und jedem
Komplexionsbuch konnte er lesen, daß „beim Colericus der oberteil seines leibes größer denn der unter ist“,
oder daß „der Flegmaticus viel Flaisch“ und „kleine Augen hat". Spätestens als er zum Titelbild der „Quat-
tuor libri amorum“ (Nürnberg, Frühjahr 1502) des Konrad Celtis mit der Darstellung der Philosophie die
vier Temperamente zeichnete, lernte er die Anschauungen des Marsilius Ficinus über die Temperamente
kennen2. Zur Vertiefung der Kenntnisse scheint Dürer dann auch selbst die Schriften der „Fisycy“ studiert
zu haben. Auf solche Weise gelangte er zu der in einem Entwurf zum Ästhetischen Exkurs (Nürnberg, Stadt-
bibliothek, Fol. 64b) vertretenen Oberzeugung, daß aus der Messung einer menschlichen Gestalt ihre
„Natur“ oder Komplexion zu erkennen sei, und daß eine Befolgung und Anwendung dieser Maße dem
Künstler es ermögliche, verschiedene Gestalten der Menschen zu machen, welchen Temperamenten-Typ er
eben wolle.

Diese Gedanken hat Dürer in weiteren Texten zum Ästhetischen Exkurs mit Hinweis auf die Ergebnisse
seiner eigenen Messungen immer wieder formuliert. Dabei faßte er die Temperamente von verschiedenen
Seiten auf: a) von der psychischen Seite, wenn er darlegt, daß man durch Messen „allerlei Gestalt der Men-
schen“ zu machen erfinden könne, zornige oder gütige, erschrockene oder freudvolle und dgl.; b) von der
elementaren Seite, wenn er meint, durch die Maß „allerlei Geschlecht der Menschen anzuzeigen, welche
feurig, luffig, wäßrig oder irdisch sind“; c) das Astrologische betonen die Sätze in der Druckfassung der
Lehre von menschlicher Proportion, Fol. T 4a: Wenn ein Besteller zu dir kommt und ein Bild haben will,
das saturninisch oder martialisch ist oder lieblich-holdselig wie die Venus, so wirst du aus den vorgetragenen
Lehren, wenn du darin geübt bist, leicht wissen, welche Maße und welchen Typus du dazu verwenden sollst.
So kann man durch die Maß äußerlich verschiedene Arten der Menschen kennzeichnen, sanguinische, chole-
rische, phlegmatische, melancholische. Denn die Gewalt der Kunst, wie gesagt, meistert jede Aufgabe.

Ihren anschaulichen Ausdruck erhielt die Temperamentenlehre aber im Bildwerk Dürers: die Gestaltung

1 Vgl. K. Giehlow, Mitteilungen der Gesellschafl für vervielfältigende Kunst, Beilage der „Graphischen Künste“ 27
(1904), S. 66 f.

2 Aus seinem Umgang mit Celtis hat Dürer gewiß einen guten Teil der Bewunderung vor dem Florentiner Neuplato-
nismus, die in seinen ästhetischen Schriften öfter zum Ausdrucke kommt.

98
 
Annotationen