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GROTESKE RENAISSANCE

§ 1. Es war am Schluss des letzten Kapitels bemerkt
worden, dass die Übergangsphasen im moralischen Charak-
ter der Venezianer, während ihres Niedergangs, von Stolz
zu Ungläubigkeit, und von Ungläubigkeit zu skrupelloser
Sucht nach Vergnügen stattfanden. Während der letz-
ten Jahre des staatlichen Bestehens scheint sowohl der
Adel wie das Volk nur darauf ausgegangen zu sein, sich
die Mittel zu verschaffen, um schrankenloser Genussucht
zu fröhnen. Es war nicht mehr Kraft genug in ihnen vor-
handen, um stolz, und nicht mehr Vorbedacht genug, um
ehrgeizig zu sein. Eine Besitzung des Staates nach der andern
wurde den Feinden überlassen; eine Bezugsquelle seines
Handels nach der andern durch eigene Trägheit aufgegeben,
oder durch tatkräftigere Mitbewerber vor ihm verschlossen,
und Zeit und Gedanken der Nation wurden ausschließlich
zur Erfindung solcher phantastischen und kostspieligen Ver-
gnügungen angewandt, die am besten geeignet waren, ihre
Apathie aufzurütteln, ihre Gewissensbisse einzulullen, oder
ihren Zusammenbruch zu verhüllen.

§ 2. Die während dieser Periode in Venedig errichteten
Bauwerke gehören zu den schlechtesten und minderwertig-
sten, die jemals von Menschenhand aufgeführt wurden, da
sie sich durch einen Geist brutalen Spottes und unver-
schämten Scherzes auszeichnen, der besonders in missge-
stalteten und ungeheuerlichen Skulpturen zum Ausdruck
kam, und kaum anders bezeichnet werden kann, als die
in Stein verewigten Zotenreißereien der Trunkenheit. Es

Ruski n , Steine III 9
 
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