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Winckelmann, Johann Joachim; Balensiefen, Lilian; Borbein, Adolf Heinrich [Hrsg.]; Kunze, Max [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz [Hrsg.]; Deutsches Archäologisches Institut [Hrsg.]; Winckelmann-Gesellschaft [Hrsg.]
Schriften und Nachlaß (Band 4,5): Statuenbeschreibungen, Materialien zur "Geschichte der Kunst des Alterthums", Rezensionen — [Mainz am Rhein]: Verlag Philipp von Zabern, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.58927#0047

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Laokoοη

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Plinius meldet daß die drey Figuren des Laocoon aus einem einzigen Steine gehauen gewesen, welches 486
ihm also geschienen, weil man keine Fuge bemerkete, nicht daß es wirklich so gewesen: denn ein paar
tausend Jahre haben endlich eine fast unmerkliche Fuge entdecket, welche zeiget, daß der älteste von den
zween Söhnen besonders gearbeitet und nachher angesetzet worden. Den rechten Arm des Laocoons,
welcher fehlet und von gebrannter Erde gemacht angesetzet ist, hat bereits Michael Angelo zu ergänzen
gedacht, und hat denselben in Marmor aus dem gröbsten gehauen entworfen, aber nicht geendiget; es
lieget daher dieses Stück unten an der Statue. Dieser mit den Schlangen umwundene Arm würde sich
über das Haupt der Statue herüber beugen, und es kann dieses Künstlers Absicht gewesen seyn, den
Begriff des Leidens im Laocoon, da dessen übrige Figur frey ist, durch die Annäherung dieses Arms
zu dem Haupte, als in zween verbundenen Begriffen, stärker zu machen, und durch die wiederholten
Wendungen der Schlangen, hieher den Schmerz vereinigt zu legen, welchen der alte Künstler mit der
Schönheit der Figur, da beydes hier herrschen sollte, abgewogen hat. Es scheinet aber, es würde der über
das Haupt gebogene Arm, die vornehmste Aufmerksamkeit, die das Haupt verlanget, zertheilet haben,
da der Blick zu gleicher Zeit auf die vielen Schlangen gerichtet gewesen seyn würde. Es hat Bernini daher
den von ihm ergänzten Arm von gebrannter Erde ausgestrecket, um das Haupt der Figur frey zu lassen,
und um keinen anderen Theil demselben oberwärts zu nähern. [699]
Die zwo Stufen unten an dem Würfel, auf welchem die Hauptfigur sitzet, deuten vermuthlich die
Stufen an zu dem Altare, wo dasjenige, was hier vorgestellet ist, geschah.
Da nun diese Statue unter so vielen tausenden der berühmtesten Künstler, die aus allen Orten von
Griechenland nach Rom gebracht worden, hier als das höchste in der Kunst geschätzet worden, so verdie-
net dieselbe bey der niedrigem Nachwelt, die nichts vermögend ist hervor zubringen, was diesem Werke
nur entfernterweise könte verglichen werden, desto größere Aufmerksamkeit und Bewunderung. Der
Weise findet hier zu forschen, und der Künstler unaufhörlich zu lernen, und beyde können überzeuget
werden, daß in diesem Bilde mehr verborgen liege, als was das Auge entdecket, und daß der Verstand
des Meisters viel höher noch, als sein Werk, gewesen sey.
Laocoon ist eine Natur im höchsten Schmerze, nach dem Bilde eines Mannes gemacht, der die
bewußte Stärke des Geistes gegen denselben zu sammeln suchet; und indem sein Leiden die Muskeln
aufschwellet, und die Nerven anziehet, tritt der mit Stärke bewaffnete Geist in der aufgetriebenen
Stirne hervor, und die Brust erhebet sich durch den beklemmten Othem, und durch Zurückhaltung
des Ausbruchs der Empfindung, um den Schmerz in sich zu fassen und zu verschließen. Das bange
Seufzen, welches er in sich, und den Othem an sich zieht, erschöpfet den Unterleib, und machet die
Seiten hohl, welches uns gleichsam von der Bewegung seiner Eingeweide urtheilen läßt. Sein eigenes
Leiden aber scheint ihn weniger zu beängstigen, als die Pein sei[700]ner Kinder, die ihr Angesicht zu
ihrem Vater wenden, und um Hülfe schreyen: denn das väterliche Herz offenbaret sich in den weh-
müthigen Augen, und das Mitleiden scheint in einem trüben Dufte auf denselben zu schwimmen. Sein
Gesicht ist klagend, aber nicht schreyend, seine Augen sind nach der höhern Hülfe gewandt. Der Mund
ist voll von Wehmuth, und die gesenkte Unterlippe schwer von derselben; in der überwärts gezogenen
Oberlippe aber ist dieselbe mit Schmerz vermischet, welcher mit einer Regung von Unmuth, wie über
ein unverdientes unwürdiges Leiden, in die Nase hinauftritt, dieselbe schwülstig macht, und sich in den
erweiterten und aufwärts gezogenen Nüssen offenbaret. Unter der Stirn ist der Streit zwischen Schmerz
 
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