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Statuen im Belvedere-Hof
Die erste Arbeit, an welche ich mich in Rom machete, war, die Statuen im Belvedere, nämlich den
295.486. 343 Apollo, den Laocoon, den so genannten Antinous und diesen Torso, als das Vollkommen[34]ste der
alten Bildhauerey, zu beschreiben. Die Vorstellung einer jeden Statue sollte zween Theile haben: der erste
in Absicht des Ideals, der andere nach der Kunst; und meine Meinung war, die Werke selbst von dem
besten Künstler zeichnen und stechen zu lassen. Diese Unternehmung aber gieng über mein Vermögen, 5
und würde auf dem Vorschub freygebiger Liebhaber beruhen; es ist daher dieser Entwurf, über welchen
ich viel und lange gedacht habe, ungeendiget geblieben, und gegenwärtige Beschreibung selbst möchte
noch die letzte Hand nöthig haben.
Man sehe sie an, als eine Probe von dem, was über ein so vollkommnes Werk der Kunst zu denken
und zu sagen wäre, und als eine Anzeige von Untersuchung in der Kunst. Denn es ist nicht genug zu 10
sagen, daß etwas schön ist: man soll auch wissen, in welchem Grade, und warum es schön sey. Dieses
wissen die Antiquarii in Rom nicht, wie mir diejenigen Zeugniß geben werden, die von ihnen geführet
sind, und sehr wenige Künstler sind zur Einsicht des Hohen und Erhabenen in den Werken der Alten
gelanget. Es wäre zu wünschen, daß sich jemand fände, dem die Umstände günstig sind, welcher eine
Beschreibung der besten Statuen, wie sie zum Unterricht junger Künstler und reisender Liebhaber 15
unentbehrlich wäre, unternehmen und nach Würdigkeit ausführen könnte.
Ich führe dich itzo zu dem so viel gerühmten, und niemals genug gepriesenen Trunk ei-
nes Herkules;[35] zu einem Werke, welches das schönste in seiner Art, und unter die höchste
Hervorbringung der Kunst zu zählen ist, von denen, welche bis auf unsere Zeiten gekommen sind. Wie
werde ich dir denselben beschreiben, da er der zierlichsten und der bedeutendesten Theile der Natur 20
beraubet ist! So wie von einer mächtigen Eiche, welche umgehauen und von Zweigen und Aesten ent-
blößet worden, nur der Stamm allein übrig geblieben ist, so gemißhandelt und verstümmelt sitzet das
Bild des Helden; Kopf, Brust, Arme und Beine fehlen.
Der erste Anblick wird dir vielleicht nichts, als einen ungeformten Stein sehen lassen: vermagst du
aber in die Geheimniße der Kunst einzudringen, so wirst du ein Wunder derselben erblicken, wenn du 25
dieses Werk mit einem ruhigen Auge betrachtest. Alsdenn wird dir Herkules wie mitten in allen seinen
Unternehmungen erscheinen, und der Held und der Gott werden in diesem Stücke zugleich sichtbar werden.
Da, wo die Dichter aufgehöret haben, hat der Künstler angefangen: Jene schweigen, so bald der
Held unter die Götter aufgenommen, und mit der Göttinn der ewigen Jugend ist vermählet worden;
dieser aber zeiget uns denselben in einer vergötterten Gestalt, und mit einem gleichsam unsterblichen 30
Leibe, welcher dennoch Stärke und Leichtigkeit zu den grossen Unternehmungen, die er vollbracht,
behalten hat.
Ich sehe in den mächtigen Umrissen dieses Leibes die unüberwundene Kraft des Besiegers der ge-
walti[36]gen Riesen, die sich wider die Götter empöreten, und in den phlegräischen Feldern von ihm
erleget wurden: und zu gleicher Zeit stellen mir die sanften Züge dieser Umrisse, die das Gebäude des 35
Leibes leicht und gelenksam machen, die geschwinden Wendungen desselben in dem Kampfe mit dem
Achelous vor, der mit allen vielförmigen Verwandlungen seinen Händen nicht entgehen konnte.
In jedem Theile dieses Körpers offenbaret sich, wie in einem Gemählde, der ganze Held in einer be-
sondern That, und man siehet, so wie die richtigen Absichten in dem vernünftigen Baue eines Pallastes,
hier den Gebrauch, zu welcher That ein jedes Theil gedienet hat. 40
Statuen im Belvedere-Hof
Die erste Arbeit, an welche ich mich in Rom machete, war, die Statuen im Belvedere, nämlich den
295.486. 343 Apollo, den Laocoon, den so genannten Antinous und diesen Torso, als das Vollkommen[34]ste der
alten Bildhauerey, zu beschreiben. Die Vorstellung einer jeden Statue sollte zween Theile haben: der erste
in Absicht des Ideals, der andere nach der Kunst; und meine Meinung war, die Werke selbst von dem
besten Künstler zeichnen und stechen zu lassen. Diese Unternehmung aber gieng über mein Vermögen, 5
und würde auf dem Vorschub freygebiger Liebhaber beruhen; es ist daher dieser Entwurf, über welchen
ich viel und lange gedacht habe, ungeendiget geblieben, und gegenwärtige Beschreibung selbst möchte
noch die letzte Hand nöthig haben.
Man sehe sie an, als eine Probe von dem, was über ein so vollkommnes Werk der Kunst zu denken
und zu sagen wäre, und als eine Anzeige von Untersuchung in der Kunst. Denn es ist nicht genug zu 10
sagen, daß etwas schön ist: man soll auch wissen, in welchem Grade, und warum es schön sey. Dieses
wissen die Antiquarii in Rom nicht, wie mir diejenigen Zeugniß geben werden, die von ihnen geführet
sind, und sehr wenige Künstler sind zur Einsicht des Hohen und Erhabenen in den Werken der Alten
gelanget. Es wäre zu wünschen, daß sich jemand fände, dem die Umstände günstig sind, welcher eine
Beschreibung der besten Statuen, wie sie zum Unterricht junger Künstler und reisender Liebhaber 15
unentbehrlich wäre, unternehmen und nach Würdigkeit ausführen könnte.
Ich führe dich itzo zu dem so viel gerühmten, und niemals genug gepriesenen Trunk ei-
nes Herkules;[35] zu einem Werke, welches das schönste in seiner Art, und unter die höchste
Hervorbringung der Kunst zu zählen ist, von denen, welche bis auf unsere Zeiten gekommen sind. Wie
werde ich dir denselben beschreiben, da er der zierlichsten und der bedeutendesten Theile der Natur 20
beraubet ist! So wie von einer mächtigen Eiche, welche umgehauen und von Zweigen und Aesten ent-
blößet worden, nur der Stamm allein übrig geblieben ist, so gemißhandelt und verstümmelt sitzet das
Bild des Helden; Kopf, Brust, Arme und Beine fehlen.
Der erste Anblick wird dir vielleicht nichts, als einen ungeformten Stein sehen lassen: vermagst du
aber in die Geheimniße der Kunst einzudringen, so wirst du ein Wunder derselben erblicken, wenn du 25
dieses Werk mit einem ruhigen Auge betrachtest. Alsdenn wird dir Herkules wie mitten in allen seinen
Unternehmungen erscheinen, und der Held und der Gott werden in diesem Stücke zugleich sichtbar werden.
Da, wo die Dichter aufgehöret haben, hat der Künstler angefangen: Jene schweigen, so bald der
Held unter die Götter aufgenommen, und mit der Göttinn der ewigen Jugend ist vermählet worden;
dieser aber zeiget uns denselben in einer vergötterten Gestalt, und mit einem gleichsam unsterblichen 30
Leibe, welcher dennoch Stärke und Leichtigkeit zu den grossen Unternehmungen, die er vollbracht,
behalten hat.
Ich sehe in den mächtigen Umrissen dieses Leibes die unüberwundene Kraft des Besiegers der ge-
walti[36]gen Riesen, die sich wider die Götter empöreten, und in den phlegräischen Feldern von ihm
erleget wurden: und zu gleicher Zeit stellen mir die sanften Züge dieser Umrisse, die das Gebäude des 35
Leibes leicht und gelenksam machen, die geschwinden Wendungen desselben in dem Kampfe mit dem
Achelous vor, der mit allen vielförmigen Verwandlungen seinen Händen nicht entgehen konnte.
In jedem Theile dieses Körpers offenbaret sich, wie in einem Gemählde, der ganze Held in einer be-
sondern That, und man siehet, so wie die richtigen Absichten in dem vernünftigen Baue eines Pallastes,
hier den Gebrauch, zu welcher That ein jedes Theil gedienet hat. 40