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mißlangen und die Lassalleancr sowohl auf ihren Kongressen zu Hannover,
Frankfurt k., wie die „Eisenacher" auf den ihrigen zu Dresden, Mainz,
Äoburg, Gotha bestärkten sich in ihren Beschlüssen, die Selbständigkeit ihrer
Richtungen unter allen Umständen zu wahren. Dabei gewannen beide Par-
teien an Boden, aber sie thaten sich durch gegenseitige Bekämpfung wieder viel
Abbruch.

Erst die erfolgreichen Reichstagswahlen von 1874 brachten beide Parteien
einander näher und der Drang nach Vereinigung wuchs ganz von selbst ans
den Massen heraus. Die Führer hätten nachgcben müssen, auch wenn sie
nicht gewollt hätten. Man verständigte sich bald und so kam es zu dem für
die deutsche Arbeiterbewegung so folgenreichen Kongresse von Gotha, dem
Bereinigungskongreß (1875), aus welchem die beiden bisher feindlichen
Parteien sich miteinander völlig verschmolzen.

Auf dem Gothaer Kongresse von 1875, auf dem 25 000 deutsche Arbeiter,
resp. direkte Mitglieder der sozialdemokratischen Parteien vertreten waren
(15000 Lassalleancr und 9000 Eisenacher), wurde das bekannte Gothaer
P r o g r a m m vereinbart. An Stelle der zentralistischen Organisation Lassallc's
trat eine demokratische; die Parteileitung ward einem Ausschüsse übertragen.

Die vereinte Kraft der neuen Partei machte sich bald fühlbar; Agitation
und Ausbreitung der Bewegung nahmen einen bis dahin nicht gekannten
Aufschwung. Die Mitgliederzahl stieg rasch und die Presse nahm zu. Auf
dem Gothaer Kongreß von 1870 konnten schon sehr günstige Resultate der
Parteithätigkeit mitgetheilt werden; die polnischen Zeitungen der Partei waren
von 11 auf 23 gestiegen. Auf diesem Kongreß schuf man em einziges Partei-
organ, den „Vorwärts" in Leipzig; bisher hatten der „Neue Sozialdemokrat",
das Organ des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins, und der „Volksstaat",
Organ der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, noch neben einander bestanden.

Noch größere Erfolge konnten auf dem Kongreß von 1877 berichtet
werden; die Partei hatte nun schon 41 politische Blätter, von den gewerk-
schaftlichen abgesehen. Im Januar 1877 hatten die Rcichstagswahlen statt-
gefunden und die Partei hatte zwölf Mandate und 500 000 Stimmen
errungen. Die Bewegung hatte sich ans den höchsten bisher erreichten Stand
gehoben niid Alles ging mit mächtigen Schritten vorwärts. Die Abgeord-
neten der Partei hatten in der ersten Session von 1877 das bekannte
Arbeiterschutzgesetz eingebracht und durch diese positive Thätigkeit war das Ver-
trauen der Massen zur Sozialdemokratie in eminentem Maße gestärkt worden.

Aber die Regierungen hatten ein wachsames Auge auf die so gewaltig
anschwclleudc Bewegung und das Angstgeschrei der Spießbürger und Philister,
die schon ihr Eigenthum „getheilt" sahen, wurde mit jedem Tage stärker.
Schon 1870 hatten die verbündeten Regierungen eine „Strasgesetznovclle"
ausgearbeitet, die mit den schärfsten Bestimmungen gegen die Sozialdemokratie
gespickt war. Aber der Reichstag lehnte sic ab.

Da kamen 1878 die beiden Attentate auf Kaiser Wilhelm I.

Das erste verübte Hödel, der von der Sozialdemokratie abgewiesen,
zuletzt bei den Christlich-Sozialen sich hcrumgctrieben hatte. Die That dieses
offenbar verrückten Menschen mußte den Anlaß geben, ein „Gesetz zur Abwehr
sozialdemokratischer Ausschreitungen" dem Reichstage vorzulegen. Es war
ein Ausnahmegesetz im vollen Sinuc des Wortes. Indessen lehnte es der
Reichstag ab. Aber bald darauf schoß I)r. Nobiling, ein offenbar ebenfalls
verrückter Mensch, der sich früher zur nationalliberalen Partei gezählt hatte,
auf den Kaiser Wilhelm und verwundete ihn. Die darauf folgende Hetze
gegen die Sozialdemokratie als die angebliche Urheberin der Attentate, die
Auflösung des Reichstages, die Wahlen unter dem Druck der Behörden und
der aufgereizten Spießbürger — Alles ist bekannt. Es kam das Sozialisten-

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gcsctz mit Verboten, Unterdrückungen und Ausweisungen und die Partei hatte
schwere Zeiten durchzumachcn. Sic hielt aus in dem furchtbaren Vernichtungs-
kampfe, den der mächtigste Staatsmann unserer Zeit mit all seinen Mitteln
gegen sic führte, und sie hat den Staatsmann sammt seinem System überdauert.

Schon 1878 war der nach Gotha bestimmte Kongreß der Partei ver-
hindert worden, indem das Gothaer Spicßbürgerthum einen solchen Lärm
machte, daß die Gothaer Behörden den Kongreß untersagten. In der ersten
Zeit war es schwer, unter dem Druck der Polizei und dem Terrorismus
der Gegner, die Partei zusammen zu halten. Aber sie kräftigte sich bald
wieder, trotz der harten Anwendung des Sozialistengesetzes und der Ver-
hängung des Belagerungszustandes über verschiedene große Städte. Schon
1880 ward ein Kongreß auf dem Schloß Wh den im Kanton Zürich in aller
Stille abgehaltcn, zu dem 56 Theilnehmer erschienen waren. Man beschloß,
im Programm, wo es heißt, daß die Partei ihre Ziele mit allen gesetzlichen
Mitteln erstrebe, das Wort „gesetzlich" zu streichen, nicht weil mau, wie
es die Polizeiblätter deuteten, den gewaltsamen Umsturz proklamircn wollte,
sondern weil man unter einem Ausnahmezustand die Betonung der „gesetz-
lichen Mittel" für gegenstandslos hielt. Der Kongreß empfahl rege Thcil-
nahme an den Wahlen, bei Stichwahlen aber im Allgemeinen Wahlenthaltung.

Die Wahlen von 1881 hatten die Zahl der sozialdemokratischen Rcichs-
tagsmitglieder von 9 wieder auf 12 erhöht und die Bewegung gewann
allseitig nach und nach an Stärke und Tiefe. Die „milde Praxis" des
Herrn von Puttkam er machte es aber unmöglich, einen Kongreß im Lande
selbst abzuhaltcn. Eine Konferenz bekannter Parteigenossen, die 1882 int
August in Zürich stattfand, berief daher einen Ende März 1883 abzuhaltcnden
Kongreß nach Kopenhagen. Es erschienen daselbst 00 Delegirte. Die
preußische Geheimpolizei, die alle Grenzen bewachte, hatte zu ihrem großen
Aerger den Ort des Kongresses nicht ausfindig machen können.

Der Kongreß sprach sich gegen die sogenannte Sozialrcform des
Fürsten Bismarck aus und lehnte es ab, die Parteigenossen bei einer Stich-
wahl zwischen zwei Gegnern zur Stimmenthaltung zu verpflichten. Die
Partei erschien so geschlossen und aktionsfähig als je.

Ans der Rückreise wurden in Kiel, resp. Netlmünster neun Theilnehmer
an dem Kongresse verhaftet. Ein Gehcimbnndsprozeß wurde gegen sic ein-
gclcitet und sie wurden, nachdem sic das Landgericht Chemnitz sreigesprochc»,
vom Landgericht Freiberg sämmtlich zu längeren Gefängnißstrafen vcrnrtheilt.
Dies Freiberger Urtheil bewirkte verschiedene ähnliche Prozesse, hatte indessen
auch zur Folge, daß die Fraktion den offiziellen Charakter des Parteiorgans
„Sozialdemokrat" aufhob, um die Einleitung solcher Prozesse zu erschweren.

Vier Jahre gingen dann ins Land; die Wahlen von 1884 verstärkten
die sozialdemokratische Fraktion bis auf 25 Mann und es kam die Wendung
von 1887, bei welcher der Kartellunfug seine Orgien feierte. Der Kriegs-
schwindel und die Angstmeierei, die er mit sich brachte, führten eine Nieder-
lage der Opposition nach Auslösung des Reichstages herbei; die Sozial-
demokratie erhielt statt 25 Mandaten nur deren elf.

Die Partei verwand dies leichter als ihre Gegner gehofft; sie blieb in
eifriger Thätigkeit trotz des furchtbaren Drucks unter dem Sozialistengesetz
und gewann immer mehr an Boden, da die egoistische Politik des sogenannten
Kartells, welche die Lebensmittel eminent verthcuerte, dem Volke sehr bald
den Staar stechen mußte. Obschon es, wie der Freiberger Prozeß gezeigt
hatte, nicht ohne Gefahr war, einen Kongreß im Auslande abzuhalten, so
entschloß sich die Partei doch zu einem solchen und sie appellirtc nicht ver-
gebens an den Muth und die Bereitwilligkeit der Genossen. Wiewohl die
Puttkamerei noch in ihrer Blüthe stand und dieser edle Patriot im Reichstage

Calvarienberg, nämlich die Passionsgcschichtc der Partei unter dem Sozia-
listengesetz in den einzelnen Lcidcnsstationcn. Nun, liebe Lotte, denke Dir
meine komische Situation: ich, der Kommerzienrath, Stadtrath, Aufsichtsrath
u s. w. zwischen Sozialdemokraten hineingepreßt wie ein Zwanzigmarkstück
in einen Hansen Kupfermünzen!

Die Klingel ertönte mächtig durch den gefüllten Saal und ein Mann
auf der Tribüne trat vor von höchst würdigem, vornehmem Aeußcrn und
in ebensolcher Haltung. Ich dachte, es sei der Landrath oder wenigstens der
Polizeipräsident, der zur Ordnung mahnen, vor Exzessen warnen und mit
der bewaffneten Macht drohen wolle. Und was meinst Du, Lottchcn, wer
es war? Liebknecht war cs in eigener leibhaftiger Person, der schreckliche
Liebknecht, der in unserem Amtsblatt kürzlich als wilder Radaubruder ge-
schildert war. Was doch die Zeitungen lügen! Vornehm, wie sein Aeußeres,
war auch seine Rede, dabei aber war sic von einem eigenartigen Etwas
durchweht und getragen, einer Mischung von Wärme, Milde, Kraft, daß mir
— ich will es Dir nur gestehen — wie in der Kirche zu Muthe wurde.
Ich hätte viel daruni gegeben, wenn ich mich dieses imponirenden Eindrucks
hätte erwehren können. Nun freilich, eine Schwalbe macht noch keinen
Sommer und die Führer sind schlau. Nach der Bureauwahl und Fest-
stellung der Geschäftsordnung ging man auseinander. Beim Herausgehen
zeigte mir Jemand den alten Tölcke, eine hohe, stramme Gestalt, der trotz
der Last seiner Jahre noch merkwürdig rüstig aussieht. Ich sah mich un-
willkürlich nach dem berühmten Knüppel um, den er wirklich in der Gestalt
eines spanischen Rohres in der Hand hatte; an seiner Seite saß seine Tochter,
eine sehr hübsche Dame Beim Bart des Propheten! Wenn die Sozial-
demokraten solche hübsche Töchter haben, dann wäre ich bald in Versuchung,
auch ein Sozial —. Werde nicht ängstlich, liebe Lotte, es ist blos Spaß.
Gute Nacht. Bin begierig auf morgen, das Gruselige wird schon noch
kommen, denk ich, heute wars blos die Ouvertüre»

Halle a. S, 14. 10., Mittags.

Die Kerls haben Wetterglück; „Sozialdemokratenwetter", hieß es imper-
tinenterwelse auf der Gallerie, wo ich mich gestern bald nach 8 Uhr einfand.

Heut wird schwarze Wäsche gewaschen, sagte ein Gallericnachbar; die Fraktion
wird jehörig einjeseift werden, ein anderer; wccß Kneppchcn, cs wird Sie
hochdrainatsch weern, ein dritter; die Titanen der Opposition tvcrden die
Fraktionsgötter vom Olymp Herunterstürzen, sagte ein vierter, ein ver-
bummelter Belletrist und derzeitiger Reporter einiger Winkelblätter, tvie er
mir sagte. Ich saß in lebhafter Spannung, der Dinge harrend, die da
kommen sollten und im Vorgcnnß der Enthüllungen über die entlarvten
Fraktionssündcr. Was wird man da nicht Alles zu hören bekommen! Da
wird es sich Herausstellen, daß Bebel als Parteikassier Millionen unterschlagen
hat und heimlicher Besitzer einer der schönsten Villen in Thüringen ist,
wohin er sich jährlich einige Monate zurückzicht; daß Auer ein raffinirter
Gründer ist und mit der Adele Spitzcdcr unter einer Decke gespielt hat; und
gar der Singer, am Ende wird ihm nachgcwicscn, daß er am jüdischen
Passahsest mit seinen Glaubensgenossen heimliche Zusammenkünfte hat und
einen Berliner Radikalen mit dein Schächtmcsser abthut, um sein Blut
Jehovah darzubringen und sein Fleisch mit Judcnmazze zu verspeisen. —
Allmälig ftilltc sich der Saal und ich hatte Gelegenheit, die Gesichter zu
studiren und muß Dir gestehen, liebe Lotte, daß ich abermals recht enttäuscht
wurde. Wilde, struppige Gesellen mit finsteren Gesichtern, fanatischen,
Kapitalistenhaß sprühenden Augen glaubte ich zu sehen; statt dessen erblickte
ich Männer verschiedensten Alters, auf deren Antlitz Intelligenz und Ernst,
verbunden mit der Spannkraft geistiger Energie sich deutlich ausprägtc. Un-
willkürlich mußte ich an unsere heimische jeunesao ckorüs denken mit ihren
verlebten, blasirten, schlaffen, energielosen, frivolen, mit Schmissen dekorirtcn
Faun- und Biergesichtern und der Vergleich fiel bei Gott nicht zu Gunsten
der letzteren aus. Ausgefallen ist mir ferner, daß das semitische Element
gar nicht stark in der Versammlung hervortrat und doch behaupten die Anti-
semiten, die Sozialdemokratie wäre verjudet. Und denke Dir, auch einige
Frauenzimmer bemerkte ich. Ich konnte von der Gallerie aus nur ihren
Avers sehen. Gewiß Revolutionsmcgären, dachte ich, und der Vers Schillers
fiel mir ein: „Da werden Weiber zu Hyänen"; nur war mir ausfallend,
daß eine dieser Hyänen ein himmelblaues Kleid anhatte, das trefflich saß,
statt eines blutrothen oder eines Hyänenhaft gefleckten, und daß ihr volles,

(Fortsetzung s. S. 891.)
 
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