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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 18.1925

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Herrmann, Helene: Studien zu Heinrich von Kleist
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https://doi.org/10.11588/diglit.3820#0302

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STUDIEN ZU HEINRICH VON KLEIST. 299

gefaßt wird :). Aber auch die, die ein allmähliches Sichdurchdringen
von Gesetzeswillen und Empfindungsaufschwung in beiden Haupt-
gestalten entschieden betonen, wollen von einem Einfluß noch so
leisen Schuldbewußtseins auf den Begnadigungsentschluß nichts wissen,
weil hierin ein Abbiegen von Tragik und Größe läge, das Kleist nicht
zuzutrauen sei5). Die Hohenzollernszene sei Maßstab für die Unbeug-
samkeit des Fürsten, der nur die sittliche Wandlung des Jünglings mit
der Begnadigung beantwortete, sei die stärkste Probe auf seine Festigkeit.

Wie werden wir uns nun hierbei entscheiden?

In der Tat schiene mir des Werkes innerster Sinn, der beglückende,
schwererrungene Glaube an die eigene schöpferische Kraft der Seele,
sich aus Wirrungen zu heben, vom Dämmer in die Klarheit zu treten,
in Frage gestellt, wäre die Gnade nicht Bestätigung und Preis eines
menschlich aktiven Sieges, sondern drückte sie die Zubilligung »mil-
dernder Umstände« bei Begehung der Schuld aus. Darum möchte ich
gerade diesem Teil der Hohenzollernszene, dem Vorwurf: »Du selbst
bist schuld« keine Bedeutung beimessen, wohl aber dem Gesamt-
inhalt der Szene eine recht große. Zwar ist jener Vorwurf für Hohen-
zollern selbst, der ja vor allem den Richter entwaffnen möchte, die
Hauptsache. Doch das besagt nichts. Denn es charakterisiert die
Szenen des fünften Aktes, daß hier die Menschen auf den Kurfürsten
Eindruck machen, aber durchaus nicht gerade mit dem, wovon sie
sich selbst Wirkung versprechen. Überhaupt hat Kleist hier die seltene
dramatische Situation ausgestaltet, daß derselbe Mensch zugleich über-
auffassen. Vielmehr: Er sieht einen Gebrochenen, der sich in den Händen der
Gewalt fühlt, ein Vergewaltigter bettelt um sein Leben.

!) Indiskutabel scheint mir die Meinung, der Kurfürst sei von Anfang an be-
wußter Erzieher, gebrauche die Todesfurcht nur wie der Arzt eine »heroische Kur«
zur Heilung, denke nicht das Urteil vollziehen zu lassen. Das nimmt dem Drama
jene tragische Tiefe, die erst die heitere Lösung so wundervoll befreiend macht. —
Auch die neue Wendung, die Me-yer-Benfey dieser Auffassung gibt (Das Drama
Heinrich von Kleists II. Bd., Kap. X), scheint mir unbefriedigend. Der Hauptpunkt
dieser Auffassung ist, der Kurfürst wolle nicht den Tod des Frevlers, sondern »daß
dem Gesetz Gehorsam seic. Als Seelenkenner erwarte er die Einsicht des Prinzen
in die Gerechtigkeit des Urteils, nur in bezug auf die Geradlinigkeit der Ent-
wicklung habe er sich getäuscht. Die Todesstrafe bedenke er nur für den ihm fast
unmöglichen Fall, der Prinz werde nicht von seinem Trotz ablassen, nun er seinen
Zusammenbruch sähe, habe er nur den Umweg zu seinem Ziele zu machen, über
die berühmte Wendung des Briefes: »Meint Ihr ein Unrecht sei Euch wiederfahren .. .<
— Mir scheint: diese Auffassung, die den Kurfürsten aus einer sehr biederen, höchst
ungefährlichen Psychologie heraus zu fassen sucht, verkennt den Kleistischen
Menschen in ihm, der, wie keiner, voll Heiterkeit, Humor, überlegener Güte, doch
der Unbedingtheiten fähig ist, die nun einmal die Prägung all dieser Wesen sind.

2) Siehe Gundolf a. a. O.
 
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