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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0137
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BESPRECHUNGEN. 133

merkmalen in einem blockmäßig fest umschließenden Raum verleiht den Figuren
Michelangelos jenen eigentümlichen Ausdruck des Kampfes der individuellen Form
mit der von außen lastenden Materie, der in so eminentem Sinne der Psyche ihres
Schöpfers entspricht.

In solchen antithetischen Ausführungen ästhetischen Charakters war Kalk-
mann unerreicht, ganz originell und einzig. Sie lassen uns, seine Schüler, seinen
viel zu frühen Verlust doppelt tief betrauern.

Straßburg im Elsaß. Fritz Hoeber.

Leo Schestow, Shakespeare und sein Kritiker Brandes. Zweite Auf-
lage 1911. Verlag Schipownik, St. Petersburg. 8°, 285 S.
Das tragische Erlebnis ist für Schestow der Ausgangspunkt nicht nur aller
wahren Erkenntnis, die zwar keine Allgemeingültigkeit beanspruchen darf, aber für
den Träger des tragischen Erlebnisses von überzeugender Kraft ist, sondern auch
jedes unverfälschten Lebens überhaupt, denn, so aufgefaßt, ist die Erkenntnis für
Schestow gleichbedeutend mit dem Leben überhaupt: »und wie ist es dann« ruft
er einmal aus, »wenn die alte Meinung, der Erkenntnisbaum sei nicht der Lebens-
baum, falsch ist«').

Worin besteht nach Schestow das tragische Erlebnis? Darüber gibt Aufschluß
sein Werk »Dostoewsky und Nietzsche« (»Philosophie der Tragödie«) 1903.

Der tragische Held ist kein Philister; er kann nicht ein Dasein nach allgemeinen
Regeln fristen; er muß seine individuelle Natur ausleben; denn erst dann fühlt er,
daß er lebt. Aber dadurch gerät er in Konflikt mit den Mitmenschen, mit deren
alltäglicher Moral und Lebensauffassung: er verschuldet sich, so daß er für das
alltägliche Leben sich nicht mehr eignet, oder, um sich Bahn zu brechen, begeht er
an einem anderen eine Schuld. In beiden Fällen führt dies den Helden zu grenzen-
loser Qual; äußerlich und innerlich vereinsamt er: er wird aus dem geregelten Leben
hinausgeschoben; es entstehen in ihm Gefühle, Empfindungen, Gedanken, die kein
Verständnis bei den Mitmenschen finden. Der tragische Held gibt nicht so schnell
das Leben auf; er besitzt einen starken Lebensinstinkt, und er sucht nach einem
Ausweg. Er stellt sich die Frage, wozu all sein Leid diene, und muß eine Antwort
finden, um leben zu können. Diese Antwort liegt jenseits des allgemeingültigen
Urteils, das heißt, er vollzieht eine Umwertung aller Werte2). Jetzt findet er auf
einem ihm eigentümlichen Wege die Wahrheit, die sein Leid rechtfertigt: der Lohn
für alle seine Schmerzen ist die Bereicherung seines Geistes durch Erkenntnis —
dies ist keine aus Büchern herausgelesene Erkenntnis, die in keinem Zusammen-
hange mit der Gesamtpersönlichkeit steht, sondern durch Leid und Schmerz ausge-
tragene, lebendige Erkenntnis, die sogar nicht immer in eine faßbare Formel gebracht
werden kann — und die »Geistreichen« sind selig; diese Wahrheit, meint Schestow,
war schon längst bekannt, ehe noch Nietzsche sie ausgesprochen hat3). Es ließe
sich auch hier das Schillersche Wort anwenden: »Das Schicksal erhebt, indem es
zermalmt«, aber nicht im Sinne der moralischen Erhebung, sondern der Bereicherung
des Geistes. Eben darum, meint Schestow, hatte Dostoewsky ein besonderes Gefühl

]) Für Schestows Erkenntnistheorie kommt hauptsächlich seine »Apotheose der
Bodenlosigkeit« in Betracht.

5) Dostoewsky, ebenso wie Nietzsche, sprach, nach Schestow, von dieser Um-
wertung der Werte.

3) Dostoewsky und Nietzsche S. 168.


 
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