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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0309
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BESPRECHUNGEN. 305

begegnen, bei der Analyse Michelangelos. Alles z. B., was Ziegier über die poetische
Ausdeutung der »Nacht« beizubringen weiß, kann nicht verhindern, daß heute sehr
viele Leute das Bildwerk ohne all das sehn und befriedigt sind. Hat Wolfflin »ge-
träumt und gedichtet« vor der Figur? Ziegler überschätzt hier wirklich die eigne
Pionierrolle. Es handelt sich auch nicht darum, daß Michelangelo vor Zieglers Ein-
greifen gegen Kritik überhaupt gefeit gewesen wäre (Jakob Burckhardt!) oder ge-
feit sein sollte — der Verfasser widmet der Beleuchtung einer solchen Denkweise
mehrere Seiten — sondern darum, daß die Kritik, die z. B. auch Wolfflin hier übt,
allerdings bei den größten Künstlern und Werken mit vollem Recht besonders scharf
auf ihre Stichhaltigkeit geprüft werden wird, namentlich aber dann, wenn sie Eigen-
schaften bezweifelt, die man besonders gerade an dem in Frage stehenden Künstler
bewundert hat. So läßt man sich von Kritikern Michelangelos viel gefallen, aber
wenn z. B. behauptet wird, er habe öfter das Interesse für das klare optische Bild
oder den funktionellen Zusammenhang menschlicher Glieder verloren, so kann der
Kritiker gewiß sein, daß er einen harten Strauß haben wird. Um bei der »Nacht«
zu bleiben, so ist die Frage nach dem rechten Arm schon von Wolfflin erledigt
worden: »Bei der Nacht scheint der rechte Arm für den Anblick verloren gegangen
zu sein, allein es scheint nur so: er steckt in dem unbearbeiteten Stück Stein über der
Larve.« Es ist aber auch bei den Tausenden, auf die das Werk gewirkt hat, kaum
der seelische Ausdruck allein, der gerade bei dieser Körperlichkeit sich ausschließ-
lich geltend gemacht hätte, und er allein hat auch nicht Michelangelo beschäftigt,
so daß er die plastische Form in ihrem organischen Zusammenhang, die Klarheit
der Ansicht und die Klärung weiter zurückliegender Dinge darüber wohlgemut ver-
nachlässigt hätte. Ziegler meint (S. 86) von dem »unklaren und optisch unbe-
friedigenden Zusammenhalt: Wen kümmert dies, denkt dieser gewaltsame Geist,
wenn nur der Ausdruck einer unaufhebbaren Schwermut, einer tragischen Stim-
mung in möglichster Deutlichkeit erscheint«. Ja woher weiß Ziegler das? Wenn
hier das eine Interesse vielleicht hinter dem andern zurücktrat, so wäre der Vorgang
wohl in andern Worten zu fassen. Vielleicht gab es hier ein Ringen zwischen zwei
Problemen, aber ein tragisches Ringen, ein titanisches Unternehmen, beide zu ver-
einigen, das groß genug ist, um mit Hegeischen weltgeschichtlichen Kategorien
aufgefaßt zu werden: Wenn man sich erinnert an Hegels große Konstruktion der
drei Hauptepochen der Kunst in ihrem Verhältnis von »Idee« und Form, wie er
sagt, so weiß man, was hier gemeint sein kann. Gewiß kann in diesem Kampfe die
psychisch-expressive Form der funktionell bestimmten sich auch einmal überordnen,
aber es bleibt bei Wölfflins Feststellung, daß Michelangelo die größte optische
Vorstellungskraft gehabt habe, die jemals ein Mensch besessen, es gibt also ein
schiefes Bild von ihm, daß er gemeint haben solle: »wen kümmert das?« Und daß
er alles das auch nur beabsichtigt habe, was spätere Zeiten literarisch um diese seine
Figur gesponnen haben, das glaube wer mag; wenn er aber selbst in seinen Sonetten
die Nacht so viel ausdeutet — dann hat er's in der Figur wahrscheinlich gerade nicht
getan und auch nicht gewollt, weil nicht gekonnt und nicht gebraucht. Auch beim
David ist mir fraglich, ob wirklich der »funktional unbeteiligte, bis zur Gleichgültig-
keit träge Körper und das gewaltsame wetterleuchtende Gesicht in einem unauf-
hebbaren Widerstreit stehen« — kann nicht gerade die geistig-seeliche Konzentration
auch so auf den Körper wirken, daß alles Leben sozusagen im Kopfe absorbiert
wird, wie der Körper z. B. auch bei angestrengtem Denken am besten ganz ruhig
bleibt? Außerdem mag das Werk mit Bedacht so komponiert sein, daß der Kopf
in seiner Art keine Konkurrenz erhält, ohne daß er aber darum das Interesse seines
Bildners allein absorbierte! —

Zeilschr. f. Ästhetik 11. allg. Kunstwissenschaft. VIII. 20
 
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