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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0311
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BESPRECHUNGEN. 307

andere Vorstellungen über die Schwelle des Bewußtseins, die, vielleicht zunächst
zusammenhanglose Bilder, dennoch wie eine Erleuchtung wirken könnten. Graß-
berger versucht sogar die Tatsache, daß die mystischen Zahlen die ungeraden sind,
auf diese Weise zu verstehen: Unser Hirn, wie er sich in Anlehnung an Mach
ausdrückt, neige zur Symmetrie, trachte durch Verdoppelung das Asymmetrische
aus der Welt zu schaffen, daher erkläre sich die größere Vorliebe normaler Menschen
für die geraden Zahlen. Dagegen in dem ermüdeten Hirn des Mystikers komme
es zu einer Umkehrung dieses Verhaltens. Man mag hierüber denken, wie man
will, man mag die starke Verbindung zwischen Mystik und Paradoxie jeder Art
hierdurch erklärt finden oder nicht, man ist jedenfalls dem Verfasser dankbar für
die verständnisvolle Äußerung: »Nichts ist irriger als die Anschauung, daß die
Mystiker das Seltene suchen, um aufzufallen oder sich hierin von den anderen
Menschen zu unterscheiden. Das Seltene sucht den Mystiker auf. Er ist nicht der
Jäger, sondern das Wild.« Auch wenn der Autor die humoristische Färbung des
mystischen Vorstellungsinhaltes zu dessen innerstem Wesen rechnet und gleichfalls
in der Richtung der eben skizzierten Gedanken zu begreifen sucht, so setzt er sich
keineswegs der leichten Widerlegung aus, daß dann ja jeder Humor Galgenhumor
wäre, denn er spricht wenigstens von einem edlen unbewußten Humor des Mystikers,
den man nicht mit dem gedankenlosen oder ironisch bewußten Humor der gewöhn-
lichen Menschen verwechseln dürfe (ich würde in dem letzteren Falle nicht von
Humor, sondern höchstens von Witz sprechen).

Der Verfasser sucht dann diese Ansichten zu verwerten in einer Darlegung über
das Schaffen des Künstlers. Er entwickelt da Einsichten, wie man sie nicht häufig
in der naturwissenschaftlichen Literatur finden wird. »Der Dichter hat volle Arbeit
mit der Ordnung der aus dem Unterbewußtsein wie das Unkraut aufschießenden
Analogien, mit der Sichtung der restlos einfallenden Umkehrungen. Verfolgen wir,
wie er die Störenfriede meistert. Ein Teil der Analogien dient zum Schmuck der
Rede, ein anderer zur Aufhellung der Symbolik. Von den Umkehrungen werden
viele im Moment des Entstehens als Ungeziefer behandelt und vernichtet, andere
drängen die Handlung in eine neue Richtung, sie verschieben das Problem, wieder
andere werden im Dialog verwendet, sie formen den Humor von Rede und Wider-
rede. Der Überschuß an Umkehrungen und Analogien, über deren Wert der Dichter
sich selbst nicht ganz klar ist, wird in einer lustigen Person, in einem Trunkenbold
oder Narren versteckt. Mag er hier sein Unwesen treiben und auf den Ausleger
warten, der ja besser als der Dichter weiß, was sich dieser dabei gedacht hat. Die
Ordnung der Analogien und Umkehrungen macht den Hauptanteil des bewußten
dichterischen Schaffens aus. Das Gefühl der Veranewortung, die Gewissenhaftigkeit,
Geschmack, Geschick und Übung des Dichters bestimmen den Grad der Ordnung.
Je vollkommener das Ordnen gelingt, desto klarer heben sich die Charaktere von-
einander. Je weniger die Ermüdungsvorstellungen des Dichters auf verschiedene
Personen verteilt werden, je mehr der Zwiespalt dem Reden und Handeln einer
Hauptperson zugeschoben wird, um so dunkler erscheint uns diese (Hamlet). In
ihr ist tatsächlich das Denken des Dichters selbst abgebildet. Dem gegenüber bietet
das mehr oder minder hoch entwickelte kritische Vermögen des Dichters einen
Schutz. Es entspringt der immer aufs neue geübten bewußten Gegenüberstellung
von Bild und Spiegelbild, zu der sich der Dichter bei der Ordnung seiner Phan-
tasiegemälde stets genötigt sieht. Die Not wird zur Tugend. .. . Calderons ,Das
Leben ein Traum' ist ein typisch aus Umkehrungen aufgebautes Stück.« Von der
Mystik sagt der Verfasser weiterhin, was vielleicht allgemeine Gültigkeit hat: »Die
Meisterwerke treffen wir auf einem Höhepunkt, wo die zerstreuenden und sam-
 
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