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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0313
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BESPRECHUNGEN. 309

Klangfarbe. Die Kunst des Vortrages besteht darin, durch die Wortverbindung die
verschiedenen Obertöne zu verstärken oder abzuschwächen und so eine Gehirn-
erregung hervorzurufen, die den Zielen des Vortragenden entgegenkommt. Daher ist
die Sprache ein beliebtes Werkzeug der Mystiker. Sie wählen vielfach ihre Worte
so, daß die in dem Unterbewußtsein des Zuhörers erregten Vorstellungen sich zu
einem eigenen Bild gruppieren, das erst später, z. B. unter der Nachwirkung eines
ermüdenden Affektes, in das Bewußtsein tritt und nun als neue und überraschende
Wahrheit empfunden wird.«

Friedenau. Erich Everth.

Ernest Bovet, Lynsme, e'popee, drame. — Une loi de Vhistoire litteraire expliquee
par Vevolution generale. — Paris 1911. Libr. Armand Colin. IX u. 309 S.
O. Walzel hat in neuerer Zeit nachdrücklich darauf hingewiesen, daß in der
Literaturhistorie neben der weit und oft zu weit getriebenen Analyse die Synthese
wieder zu ihrem Recht kommen müsse. Es ist die gleiche »Polarität«, die sich auch
in der Geschichtsforschung geltend gemacht hat und neuerdings in der Natur-
wissenschaft bemerkbar wird; und wenn Bovets Buch als eine literarhistorische
Geschichtsphilosophie bezeichnet werden könnte, ist es kein Zufall, daß sein
Unternehmen zuweilen an Lamprechts geistreiche Konstruktionen, und nicht selten
auch an Ostwalds gewaltsame Dogmatismen erinnert.

Für uns Deutsche ist dies Buch eines für Frankreich (S. 44 f., doch vgl. S. 153)
und Paris (S. VI, doch vgl. S. 286) bis zum Überschwang begeisterten, doch keines-
wegs (vgl. besonders S. 120) gegen Deutschland feindlich gestimmten Schweizers
nicht bloß wegen der Thesen, die es enthält, merkwürdig, sondern gerade auch
wegen der Methode, auf die Bovet (S. 9, 31, 184 f.) das größte Gewicht legt. Wir
sind erstaunt, in einer Betrachtung, die durch eine nichts weniger als einwandsfreie
Beweisführung gestützt wird, eine »rigueur mathe'matique« (S. 140) finden zu sollen,
und freuen uns, daß dieser fäichisme scientifique (S. 127) an der Fülle der Tat-
sachen scheitert. Wir sind schon gleich verwundert, wenn Bovet als Ausgangspunkt
für seine Lehre von den drei typischen Entwicklungsformen der Literatur — Victor
Hugo (in der Vorrede zu »Cromwell«) nimmt und alle die Philosophen, Ästhetiker,
Literaturvergleicher ignoriert, die die gleiche oder ähnliche Lehren schon längst
aufgestellt und eingehender begründet haben, und von deren einem sie wohl auch
dem in Gedanken so wenig und im Ausdruck so stark originellen grand divinateur
zugekommen sein werden. In der Tat ist besonders in Deutschland das Dogma
von einer festen Folge der Dichtungsgattungen (derjenigen der Wirtschaftsformen
vergleichbar) bis zum Übermaß diskutiert worden; und gerade mit Rücksicht auf
den Ursprung der Minnedichtung (wo ich Bovet mit Vergnügen auf derselben Seite
sehe, auf der z. B. Burdach und ich gegen Wilmanns und Schönbach stehen, S. 35 f.)
so häufig, daß ich mir schließlich in einer Parodie der geläufigsten Doktor-
themata die These gestattete: »Das Epos ist älter als die Lyrik, und umgekehrt.«
Was aber doch nicht bloß ein Scherz ist; denn ich halte für einen der sichersten
Triumphe vergleichender Literaturforschung Müllenhoffs Beweis, daß die älteste
Poesie weder episch ist noch lyrisch, sondern »chorisch«, d. h. in einem chaotischen
Zustand, der die Gattungen alle im Keim, keine differenziert enthält. Und ich er-
blicke in Bovets Übersehen dieser Entdeckung — die durch die neuesten Forschun-
gen nur bestätigt worden ist — eine bedeutsame Fehlerquelle seines interessanten
Buches.

Aber dies ist ein weiterer Punkt, der ein wenig verstimmt: wie wenig der
Verfasser mit deutscher Forschung vertraut scheint, soweit sie nämlich nicht sein
 
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