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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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Dessoir, Max: Über das Beschreiben von Bildern
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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0446
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442 • MAX DESSOIR.

Beschreibung eines Dramas oder eines Musikstücks eine gewisse
natürliche Sicherheit, die im andern Fall dem Beschreibenden und
nicht minder seinem Leser abgeht.

Trotzdem sei vor Überschätzung dieser sondernden Bestimmungen
gewarnt. Denn die meisten Werke der Raumkunst, am klarsten die
Handlungsbilder, bergen in sich einen Zeitverlauf, der die Betrachtung
und die Beschreibung regelt. Ich spreche jetzt noch nicht über diesen
Hauptgegenstand des Aufsatzes, sondern wende mich der andern
Seite zu. Wer ein Werk der Zeitkünste unter ästhetischen Gesichts-
punkten beschreibt, der muß bei den späteren Teilen der früheren sich
erinnern und vor allem auch bei den früheren die späteren Teile
gegenwärtig haben; um die Komposition einer Novelle oder einer
Sonate zu würdigen, muß das gegebene Nacheinander in ein künst-
liches Nebeneinander umgeschmolzen werden. Der Abstand beider
Aufgaben ist also nicht sehr groß, wenigstens nicht an diesem Punkte.
Ich gebe ein paar Beispiele dafür. Jedes Sprachkunstwerk, jedes Ton-
kunstwerk verwendet das technische Mittel der Vorbereitung. Will
die Beschreibung diesem Mittel gerecht werden, so kann sie nicht
umhin, Späteres vorwegzunehmen und hiermit die Reihenfolge im
Objekt preiszugeben. Ähnlich bei den heimlichen Rückverweisungen,
deren Sinn sich nur in unumwundenem Zurückgreifen klarstellen läßt.
Steigerung und Kontrast, Symmetrie und Parallelismus — sie enthüllen
sich in der Schilderung, sofern das Nacheinander irgendwie zu einer
Gleichzeitigkeit gemacht wird1). Mit einem Wort: der scheinbare
Vorzug von Werken der Zeitkunst, daß sie die Ordnung genau vor-
schreiben, besitzt für eine ästhetisch normierte Beschreibung keine
sonderliche Bedeutung. Es kommt ja nicht darauf an, Teile herzuzählen,
sondern vielmehr darauf, den Zusammenhang zu zeigen, d. h. das
Zugleich der sich bedingenden Tätigkeiten im Kunstorganismus.

Im Grunde genommen hat kunstwissenschaftliche Be-
schreibung in allen Fällen einen koexistenten Gegen-
stand vor sich, der jedoch in allen Fällen auch die der
Beschreibung nötige Regel der Zeitfolge enthält. Obwohl
hieraus kein Unterschied zwischen der Beschreibung räumlicher und
zeitlicher Werke abzuleiten ist, so besteht dennoch eine Verschiedenheit.
Sie liegt darin, daß auf der einen Seite nach dem Grund-
satz der Steigerung, auf der andern Seite nach dem Grund-
satz der Minderung beschrieben wird. Dies möchte ich vorläufig
für das Verfahren der Minderung begründen, weil es dasjenige ist, das

') Vgl. B. Seuffert, Germ.-roman. Monatsschr. 1911, S. 632 und O. Schissel
v. Fieschenberg und Joseph A. Olonar, Rhetor. Forschungen I, 1912, Einl.
 
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