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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 8.1913

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Dessoir, Max: Über das Beschreiben von Bildern
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https://doi.org/10.11588/diglit.3587#0447
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ÜBER DAS BESCHREIBEN VON BILDERN. 443

meinem Urteil nach gegenüber Erzeugnissen der bildenden Kunst an-
gewendet wird oder werden soll.

Wenn der Betrachter eines Gemäldes sich dieses völlig zu eigen
gemacht hat und nun es zu beschreiben unternimmt, so steht er vor
der Aufgabe, eine einheitliche Gesamterscheinung erst in Worten aus-
einander zu legen, letzten Endes aber dem Leser als solche in Er-
innerung zu rufen (oder gar neu zu erzeugen). Wie soll er vorgehen?
Auf dieselbe Art, scheint mir, wie eine jede sprachliche Mitteilung,
solange sie aus anschaulichen Vorstellungen entspringt. Naturmenschen
und Kinder, die noch fähig sind, eine anschauliche Folge unverändert
in eine Satzfolge zu übernehmen, beginnen mit demjenigen Bestandteil,
ohne den das Übrige bildhaft nicht mehr vorzustellen wäre. Der
Primitive berichtet »Häuptling gesehen«, das Kind erzählt »Fallen tul
bein anna hans« (Hans ist ans Bein von Annas Stuhl gefallen), indem
sie unwillkürlich das für die Anschauung unentbehrliche und eindrucks-
vollste Moment an den Anfang setzen :). Die natürliche Darstellung
einer anschaulichen Erkenntnis geht von dem wertvollsten Bestandteil
aus und schreitet in stufenweise erfolgender Minderung weiter. So
muß auch die Beschreibung eines Bildwerks die Einzelheiten nach
Maßgabe des mit ihnen verknüpften Interesses aufrollen.

An diese Einsicht heften sich zwei Fragen. Läßt sich irgendwie
allgemein bestimmen, was das ästhetisch Wesentliche ist, als womit
die Beschreibung beginnen soll, und läßt sich für die allmähliche
Minderung eine gesetzmäßige Formel finden? Auf die erste, die
wichtigste Frage scheint der Künstler am ehesten Bescheid geben zu
können, denn er muß ja wissen, worauf es ihm ankam. Indessen, wir
erfahren nur in den seltensten Fällen mit Sicherheit etwas von Ursprung
und Absicht des Schaffensvorganges; und selbst wo es geschieht,
möchte ich nicht unbesehen die Meinung des Künstlers zum Leitfaden
der Beschreibung machen. Es ist rätlicher, vom Betrachter aus das
Problem zu erwägen. Und da kann kein Zweifel sein: Entscheidend
an einem Bild ist das Moment, dessen Wiederauftauchen sogleich die
Vorstellung der Gesamterscheinung nach sich zieht. Bei einem guten
Bilde und bei richtiger Einstellung deckt sich aber das so gekenn-
zeichnete entscheidende Moment mit demjenigen Teilinhalt, der zuerst
ins Auge fällt. Denn das Eindrucksvollste wird eben sofort apperzipiert.
Eine Beschreibung, die sich der natürlichen Auffassung des Gegen-

') Vgl. Wundt, Völkerpsychologie 1900, I, 1, S. 217 und I, 2, S. 350. Ferner: Cl.
und W. Stern, Die Kindersprache 1907, S. 201.
 
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