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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 9.1914

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Groos, Karl: Das anschauliche Vorstellen beim poetischen Gleichnis
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https://doi.org/10.11588/diglit.3043#0207

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DAS ANSCHAULICHE VORSTELLEN BEIM POETISCHEN GLEICHNIS. 201

So heißt es im Protokoll Nr. 8, daß die Tauben sehr deutlich gesehen
wurden, »mit ihren offenen, weißen Flügeln gegen einen grünen
Blätterhintergrund«, und die Versuchsperson fügt hinzu: »Ich
blieb an der Vision der Tauben hängen.« In Nr. 3 wird bemerkt:
»Zwei weiße Tauben vor blaugrauem Himmel; sanfte Bewegung mit
ausgebreiteten Flügeln, über einem blühenden Garten.« Nr. 15
sah »zwei weiße Tauben vom blauen Himmel in einer südlichen
Landschaft mit offenen Schwingen herabfliegen«. Sieht man von
zwei weiteren Erwähnungen eines »tiefblauen« oder »azurblauen«
Himmels ab, so sind außerdem keine Aufzeichnungen zu finden, bei
denen man an eine durch das Geschaute veranlaßte Störung oder Ver-
änderung der Stimmung denken würde. Nun ist das ästhetische Ver-
halten offenbar so kompliziert und die Beweglichkeit der Seele im Zu-
stande des Genießens so groß, daß man aus den ablenkenden Bildern
durchaus nicht sicher auf eine Verminderung des Genusses schließen
kann. So gut ein Hörer schöner Musik sich in allerlei recht selb-
ständigen visuellen Vorstellungen ergehen kann, ohne doch den Faden
zerreißen zu lassen, der seine Phantasien an das musikalisch Gebotene
knüpft, ebensogut sind auch bei der poetischen Apperzeption vorüber-
gehende »Extratouren« denkbar, die die schnelle Rückkehr zum Haupt-
vorgang nicht unmöglich machen. So schreibt Nr. 15 (vgl. oben) zur
Schlußfrage: »Das Sehen der Farben ist nach meiner Auffassung wichtig
für den poetischen Eindruck.« Aber es ist doch bemerkenswert, daß
von den drei anderen Protokollen Nr. 2 die Schlußfrage mit »Nein«,
Nr. 3 mit »Unbestimmt« beantwortete, während Nr. 8 sie unbeantwortet
ließ. Diese Visionen mit allzu selbständigen, vom Hauptvorgang weg-
leitenden Inhalten scheinen also doch leicht eine Störung mit sich zu
bringen.

Der Unterschied eines bestimmteren und eines undeutlicheren
visuellen Vorstellens ist aus dem Material zum Taubengleichnis nicht
in brauchbarer Weise herauszuholen. Ich kann nur sagen, daß ich
von der Deutlichkeit und Individualisierung der meisten Bilder über-
rascht war. Die Protokolle enthalten mit wenigen Ausnahmen recht
bestimmte Einzelangaben, und auf vielen wird das »deutliche« oder
»sehr deutliche« Schauen besonders hervorgehoben. — Ich habe nun
den Inhalt dieser Aussagen in drei Hauptkategorien eingeteilt, nämlich
in Angaben über Gestalt, Farbe und Bewegung. Auf 27 Proto-
kollen wird die Farbe und die Bewegung je 21 mal hervorgehoben,
die Gestalt nur 15mal. Bei der Gestalt handelt es sich fast immer
um die im Text vermerkten offenen Schwingen der Vögel. Die
Angaben über die Bewegung entsprechen, soweit sie genauer sind,
ebenfalls in der Mehrzahl dem »schnell« des Textes; doch wird auch
 
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