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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 12.1917

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https://doi.org/10.11588/diglit.3621#0384

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378 BESPRECHUNGEN.

bringt, auch die Beziehungen jedes einzelnen Hörers zum Kunstwerk Form nennen.
Ebenso verfehlt erscheint es mir, in einer so vagen Weise den Begriff Materie zu
verwenden, wie es S. 18 geschieht. »So wenig die Umwelt aus sich selbst ohne
den anregenden Reiz der Klangmaterie das musikalische Kunstwerk wahrnehmen
kann, so wenig vermag die Materie als solche ohne wahrnehmungsfähige Umwelt
Erscheinung zu werden. Erst die Vereinigung beider im tätigen Zusammenwirken
ergibt das fertige Kunstwerk.» Es ist immer gewagt einen Beziehungsbegriff zum
Träger einer Systematik zu machen. Bekkers Formbegriff bedeutet einen Gesichts-
punkt, von dem aus die Wirklichkeit betrachtet werden soll, er-
starrt aber unter seinen Händen zum Zielpunkt, nach dem sich die Wirk-
lichkeit zu gestalten habe. Die Hilfskonstruktion, errichtet, um den Zu-
sammenhang von Erscheinungen zu verstehen, wird durch diese Umkehrung zur
höheren Wirklichkeit, nach der sich die Tatsachen zu richten haben.

Der richtige Kerngedanke, der dem allen zugrunde liegt — daß der Künstler
und sein Werk an die Kultur ihrer Zeit gebunden sind — hätte gar keiner weiteren
philosophischen Begründung im Sinne von »Welt als Wille und Vorstellung« be-
durft; durch die Einführung des soziologischen Formbegriffs aber, dem Bekker eine
normative Rolle zuschreibt, wird auch die Darstellung des deutschen Musiklebens
einseitig nur nach dieser Seite hin unternommen. Dadurch wird in die Kunstent-
wicklung die Vorstellung eines logisch notwendigen Prozesses hineingebracht,
in dem das einzelne Kunstwerk einen gesetzlich geforderten Stellenwert erhält,
wogegen E. Utitz in der Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft mit Recht
polemisiert.

Um es gleich vorweg zu sagen. Eine Organisation des deutschen Musiklebens
in der von Bekker vorgeschlagenen Weise würde auch nach dem Kriege eine völlige
Isolierung des deutschen Musiklebens von dem der anderen Völker bedingen. Die
Kunst darf man aber nicht mit dem Handel zusammentun. Wer sich in Dingen
der Kunst und der Wissenschaft vor der Welt absperrt, fügt nicht den andern einen
Schaden zu, sondern sich selbst. Die musikalischen Formen sind trotz Bekkers
gegenteiliger Meinung internationales Gemeingut. Die nationale Verschiedenheit
äußert sich erst im Inhalt. Wollte man hier nun künstlich Schranken aufrichten,
so wäre das Resultat wohl die Erreichung eines ausgezeichneten mittleren Niveaus,
aber die Unterbindung jeder eigenwilligen, gegen den Strom kämpfenden Persön-
lichkeit, und wir wären doch gerne bereit, das ganze mittlere Niveau für ein Genie
hinzugeben. Bekker will ferner an Stelle der genießerischen Kunstauffassung eine
tätige setzen. Der Konzertsaal, der seiner idealen Forderung entspricht, muß eine
»Synthese von Kirche und Gesellschaftsraum« sein, das Publikum aber, das ihn
füllen soll, steht seiner Meinung nach, noch vor der Tür. In einem instrumentalen
Monumentalstil, wie ihn die Sinfonien Gustav Mahlers ankünden, sieht er die Musik-
form der Zukunft.

Auch hier kann ich Bekker nicht zustimmen. Ich sehe in den Werken Mahlers,
denen ich wie Bekker eine erste Stelle in der Kunst der Gegenwart zuschreibe,
nicht Wegweiser in die Zukunft, sondern die Krönung der sich seit Haydn immer
mehr entwickelnden Sinfonieform, den Abschluß einer Epoche. Mahler selbst hat
im »Lied von der Erde« und in seiner neunten Sinfonie eine neue Schreibweise
begonnen, welche mit ihrer solistischen Instrumentation eine Abwendung vom
großen Orchester zeigt. Ebenso sehen wir in dem gewaltigsten Chorwerk der
jüngsten Zeit, den »Gurreliedern« von Arnold Schönberg, in der Instrumentation
des letzten Teiles selbst — die nach zehnjähriger Pause wieder aufgenommen und
vollendet wurde —, den Übergang von stärkster Massigkeit zu solistischer Wirkung.
 
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