Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

DOI Artikel:
Besprechungen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0114
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
BESPRECHUNGEN.

101

treten ist: Gefangener. Was andeuten will, daß wir es hier nicht mit einem psycho-
logisch festgelegten Menschentypus zu tun haben (wenngleich oft Degeneration
stark mitspricht), ja nicht einmal mit gewissen konstanten psychischen »Eigen-
schaften*, sondern mit einer komplexen psychischen Disposition, die durch gewisse
soziale Defekte ausgelöst wird; und diese wieder sind doch nicht objektive Fehl-
leistungen, sondern überhaupt nur markiert, soweit die Gesellschaft ein »praktisches
lnteresse< bekundet, sie als »faßbare Straftaten« hinzustellen. »Wie viele Gemein-
heiten geschehen täglich vor unseren Augen, die schlimmer sind« und nicht das
Gefangensein nach sich ziehen. So wirkt das soziale Dasein der Gefangenen, die
Beraubung auch der elementarsten bürgerlichen Freiheiten (Mitteilungsbedürfnis,
Geschlechtsverkehr) zusammen mit dem Ausschluß aus der Gesellschaft nur als
Rahmen, innerhalb dessen sich das primitivste Ausdiucksbedürfnis Luft machen
kann. Die typischen Darstellungen, die sich dabei ergeben, sind deshalb nicht als
aus einem gemeinsamen Typus Gefangener provenierend aufzufassen, sondern als
ein durch Beschränkung von Freiheit und nicht zuletzt von Material zusammen-
gedrückter Restbestand einer ganz allgemein psychischen Bedeutsamkeit. Diese
spezieller zu deuten, kann man jedoch nicht vorsichtig genug sein, weil dem Ver-
fertiger dieser Bildnereien in der Regel jede könnerisch-künstlerische Fertigkeit ab-
geht. Anderseits wird natürlich das rein-Ausdruckshafte dadurch ganz unstilisiert,
wenn auch unbeholfen, hervorgekehrt. »Ja man ist manchmal versucht zu sagen,
ein solcher ungeschlachter, stumpfer, ichsüchtiger Sträfling steht mit seinem unvoll-
kommenen Gestammel dem Kernvorgang bildnerischer Gestaltung näher als mancher
Könner. Darin trifft er sich mit allen, die aus dunklem Drange, ohne Übung und
Technik etwas zu formen wagen.

Mit einer solchen Einsicht, die er mit Recht »gestaltungspsychologisch' nennt,
unternimmt es Prinzhorn, das stattliche und hochinteressante Anschauungsmaterial von
etwa 700 Nummern durchzugehen. Es zusammenzubringen, war unendlich schwer,
weil jegliche bildnerische Produktion der Gefangenen, an sich meist verboten, in die
juristischen Aktenbündel gewandert ist und nach Verjährung unbeachtet vernichtet
wurde, mit Ausnahme vielleicht der besten«, d. h. scheußlichen, töricht-pedantischen
Nachzeichnungen sentimentaler Mädchenköpfe, Waldwiesen mit Rehen, Ritterburgen
aus »Daheim« und »Gartenlaubes die natürlich für unseren Zweck belanglos sind. —
In sehr weitem Maße konnte auf Lombrosos Sammlung in Turin zurückgegriffen werden.

Nach Herkunft und Art des Materials ließen sich gliedern:

1. Die Bildwerke auf Zellenwänden und Gebrauchsgegenständen der Einrich-
tungen, vornehmlich Ritzungen auf Waschkrügen.

2. Eigens hergestellte Gegenstände, besonders Spielkarten. Diese gehen von
enger Anlehnung an die volkstümliche Überlieferung bis zu freiester Gestaltung
grobsexueller Szenen. Pappe, Packpapier, Schreib- oder Zeitungspapier werden ver-
wandt und bemalt, mit Bleistift, Kreide, Tinte, Tusche, Farbe, ausgepreßtem Pflanzen-
saft, Blut, ja einmal sogar mit Kot.

3. Bildwerke ohne praktischen Gebrauchszweck, freie Zeichnungen, Plastiken
aus zerkautem Brot, von Stücken bloßer Geschicklichkeit und Handfertigkeit, Zeug-
nissen einfacher Dressur bis zu den (seltenen) wirklichen Gestaltungen von Seelischem.

4. Taxierungen, die auf Gepflogenheiten mehr der Gesellschaftsklasse als der
individuellen Neigung zurückgehen.

5. Die Bilderschrift der Gaunerzinken, die in den Zeiten des modernen Ver-
kehrs schon ausgestorben ist.

In eigentlich gestaltungspsychologischem Sinne lassen sich die Bildwerke in
drei Tendenzen einteilen:
 
Annotationen