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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0117
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BESPRECHUNGEN.

geschichten zusammensetzen, so mußte man schon auf die bereits erwähnten Werke
von O. L. B. Wolff und Dunlop-Liebrecht zurückgreifen. Zweifellos kann man nun
auch heute noch aus diesen weitgreifenden und tiefdringenden Büchern mancherlei
lernen, aber sie schließen eben mit dem Jahre 1850 ab.

Doch nicht nur aus diesen äußerlichen Gründen ist das vorliegende Werk
Borcherdts verdienstlich, es ist zugleich eine höchst geschickte und gehaltvolle
Lösung der zweifellos gewaltigen Aufgabe. Zunächst sei gesagt, was der Verfasser
nicht beabsichtigt hat, was man also nicht bei ihm suchen darf. Das Buch ist ganz
und gar kein Nachschlagebuch. Nur hie und da stößt man auf Erscheinungsjahre
einzelner Werke, Lebensdaten der Dichter wird man vergeblich suchen. Auch sind
überhaupt nur verhältnismäßig wenige Werke aus der Gesamtmasse des Vorhande-
nen genannt und behandelt. Der Verfasser will eben wohl einen Führer, nicht aber
einen Katalog durch den deutschen Roman und die deutsche Novelle geben. Ihm
liegt daran, eine klar erfaßbare, innerlich überzeugende Entwicklung der deut-
schen erzählenden Dichtung aufzuzeigen, und so zieht er die Einzelwerke gewisser-
maßen nur als Belege heran. So kommt es, daß man an behandelten einzelnen Dich-
tungen Unbekannteres kaum finden wird: wie das als solches Bekannte hier aber
für sich und in mannigfachen Zusammenhängen dargeboten wird, das läßt den wohl
zuweilen sich erhebenden Wunsch, zahlenmäßig mehr zu finden, bald verstummen.

Borcherdt schöpft, das kann man wohl sagen, die möglichen Betrachtungsweisen
bis zu einem Höchstmaß aus. Nicht nur literarische Beziehungen innerhalb der
deutschen wie hinüber zur italienischen, spanischen, französischen, englischen Dich-
tung werden verfolgt, das gesamte Kulturleben vielmehr wird, soweit es auf die
Gestaltung der Entwicklungslinie der deutschen epischen Dichtung von Einfluß war,
beleuchtet. Gesellschaftliches Leben, Wirtschaftslage, Sitte, andere Künste, religiöse
Strebungen, philosophische, weltanschauliche Stellungnahmen finden so innerhalb
des Rahmens der straff verfolgten Aufgabe eine geistreiche und fast durchweg auch
überzeugende Behandlung. Dabei bilden sich einzelne Gattungen epischer Dich-
tung wie etwa höfisches Epos, Renaissancenovelle, Abenteurerroman, Schäferroman
Robinsonade als gewissermaßen zeitlich kulturbedingte Formungen der Gesamt-
entwicklung heraus, einzelne Zeiten (Renaissance, Gegenreformation, Barock,
Rokoko) bilden in sich geschlossene Entwicklungsstufen, ohne daß dabei die sich
absondernde Wucht der Einzelpersönlichkeit (etwa Wickrain, Grimmels-
hausen, Wieland) in ihrem Recht gekränkt würde. Daneben findet schließlich auch
der Stil, und zwar nach seiner inhaltlichen wie sprachlichen Seite hin, durchweg
eingehende Beachtung; ist er es doch, der in seiner Gesamtheit Ausdruck ist aller
der erwähnten Einflüsse. Denn die aufgezeigte Entwicklung wird vom Verfasser
eben als Stilentwicklung gesehen: die Gattungen, Zeiten, Einzelpersönlichkeiten
stellen ebensoviele Stiiarten, Stilbesonderheiten dar, wobei die Zugehörigkeit der
Stilindividualität zu jenen drei Seinsgruppen die mannigfachsten Verschränkungen,
die reichhaltigsten Verbindungen bildet. All das hat Borcherdt treffend in seiner
Eigenart beleuchtet, so daß in seiner Darstellung ein außerordentlich farbenreiches und
reichhaltiges Bild der Gesamtentwicklung zunächst vom frühen Mittelalter bis zu Wie
land ersteht. Möge es ihm gelingen, auch die Entwicklung der deutschen erzählenden
Dichtung von Wieland bis zur Gegenwart zu gleich geschlossenem Bilde ZU formen!

Zum Schluß möchte ich doch einige geringe Bedenken nicht verschweigen.
Zunächst erscheinen mir zwei Behauptungen über Till Eulenspiegel (auf S. 99 und
117) in nicht unmißverständlichem Nebeneinander zu stehen; dort heißt es nämlich:
>Es hatte einmal einen Mann dieses Namens gegeben . . . Auf ihn wurden nun
alle möglichen Erzählungen übertragen«, hier dagegen wird Eulenspiegel eine »frei
 
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