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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0118
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BESPRECHUNGEN.

105

erfundene Gestalt des Volksmythos« genannt. Dann habe ich doch hie und da, be-
sonders in den ersten Abschnitten der Darstellung, den Eindruck, als seien zum
Vorteil einer eindeutigen, hemmungslosen Entwicklungslinie einzelne vorhandene
erzählerische Denkmäler sei es in den Hintergrund, sei es in eine nicht ganz natur-
gemäße Beleuchtung gerückt worden. Bei der Behandlung etwa der Predigtmärlein
und der Volksbücher fiel mir derartiges auf. Ähnlich schließlich steht es mit der
Kennzeichnung, die einzelne Dichtungen durch Borcherdt hinsichtlich ihres Wesens
als Epos, als Roman oder Novelle erfahren. Der Verfasser schickt seiner geschicht-
lichen Darstellung eine Wesenskennzeichnung dieser dichterischen Formen voraus:
und was Borcherdt hier sagt, scheint mir von seinen gesamten Ausführungen am
wenigsten glücklich. So einsichtig und fein einzelne Bemerkungen hier sind, die
von ihm hervorgehobenen Grundmerkmale der drei Gattungen sind meines Erachtens
weder vollständig noch treffen sie ihr inneres Wesen. So sehe ich beispielsweise
nicht ein, warum »die Kunstform des Romans durch die Stellung des Autors zu
seinem Werk und die Art seiner Weltanschauung, die durch die subjektive Haltung
des Dichters zur Geltung kommen kann, bedingt« (4) wird, die der Novelle da-
gegen nicht. Wenn auch jene erste Kennzeichnung beider Gattungen, daß der
Roman die Entwicklung eines Menschen darstelle, die Novelle ein einzelnes Ge-
schehen, zutreffend sein mag, aus ihr braucht jene Romankennzeichnung noch durch-
aus nicht gefolgert zu werden. Man wird vielmehr gesondert von inhaltlichen Merk-
malen immer den Sinn des Erzähltwerdens berücksichtigen müssen, der aber jeder
epischen Dichtungsform, der Novelle so gut wie dem Roman, eignet. Von diesem
immanenten epischen Aktus aber ist jene Stellung des Autors zu seinem Werk«
abhängig, die grundsätzlich also der Novelle ebenso wie dem Roman wesentlich
ist. Keineswegs also bringt der Novellist, wie Borcherdt behauptet, »seinen eigenen
Standpunkt nur in der Rahmenform zur Geltung* (S), die doch gar nicht zum Wesen
der Novelle gehört. Th. A. Meyer'), Friedemann -'), Hirt3) und Flemming4), auch
Rud. Lehmannl) haben zweifellos treffender die Eigenart epischer Dichtungsweise
behandelt. Auch was Borcherdt über das eigentliche Epos vorbringt, erscheint mir
anfechtbar, was sich auch darin bestätigt, daß er eigentlich nur die »llias« und die
-Göttliche Komödie« als wahre Epen gelten läßt. Ich zweifle, ob die Vermittlung
der Totalität eines »Weltbildes< als Grundsinn des »Epos« gelten könne, ob ihm
das Hinauswachsen über die Grenzen der Wirklichkeit wesentlich sei, ob es, wie
Borcherdt will, einen »Helden« mit Schicksal und Entwicklung eigentlich nicht zulasse.

Doch braucht man sich die Freude an der geschichtlichen Gesamtdarstellung
durch Zweifel an der Bündigkeit der Erörterungen dieser theoretischen Einleitung
nicht beeinträchtigen zu lassen: denn ihre Ergebnisse sind für den weiteren Verlauf
der Untersuchung nicht von entscheidender Bedeutung. Das Schwergewicht von
Borcherdts Leistung liegt im Historischen. Eine Stilgeschichte will er geben und
das ist ihm in dem vorliegenden ersten Bande bis zu einem hohen Grad von Voll-
endung gelungen.

Greifswald. Kurt Gassen.

') Das Stilgesetz der Poesie. Leipzig 1901.

•) Die Rolle des Erzählers in der Epik. Leipzig 1910.

') Das Formgesetz der epischen, dramatischen und lyrischen Dichtung. Leipzig
u Berlin 1923.

') Epik und Dramatik. Karlsruhe 1925.

•-) Deutsche Poetik. Leipzig 1903, 2. Aufl. 1917.
 
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