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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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Besprechungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0124
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BESPRECHUNGEN.

111

Indem nun das materiale Gestaltungsprinzip die Aufgabe enthält, zu zeigen,
wie der Rhythmus des Verses dem Sinn der Worte parallel geht, wird auch das
Problem der rhythmischen Sensibilität in den Vordergrund gerückt. Scherrer bemüht
sich darzutun, daß diese in nichts anderem als dem Vorhandensein allerfeinster kin-
ästhetischer Eindrücke bestehe. Hierzu trete allerdings auch noch eine Art Muskel-
gedächtnis, das sich den wirklich empfundenen Muskelsensationen assimiliere. Er
sagt darüber bei der Besprechung des Mörikeschen Verses »Zierlich ist des Vogels
Tritt im Schnee« folgendes: »Die genauere Erklärung der ästhetischen Wirkung ge-
staltet sich nun so: Der Sensitive, dieser raffinierte Muskelzitterer, hat solche Zier-
lichkeitsgefühle (= kinästhetische Eindrücke) schon oft gehabt. Die Muskelempfin-
dungen hinterlassen, wie alle Empfindungen, im Gedächtnis, d. b. also in der grauen
Rinde des Gehirns Spuren oder Residuen. Je zahlreichere und je deutlichere Zier-
lichkeitseindrücke der Sensible hat, desto mehr wird diese Residuenbildung be-
günstigt. Die Residuen graben sich gleichsam immer tiefer und fester ein. Unter
einem Residuum verstehen wir zunächst etwas rein Physiologisches, eine Verände-
rung, eine Abstimmung gleichsam der betreffenden Nervenzellen für neu eintretende
Zierlichkeits-Muskeleindrücke. Wenn nun später wieder einmal die Nervenzellen, in
denen diese Residuen deponiert sind, wieder von außen her erregt werden, also in
unserem Fall beim Anblick des Vogels, dann werden auch die latent schlummern-
den Residuen geweckt. Diese Erregung kommt uns nun zum Bewußtsein, aber in
einer ganz eigentümlichen Weise. Die Gedächtnis-Muskelempfindungen oder die
Muskelvorstellungen verschmelzen mit den wirklich empfundenen Muskelsensationen.
Sie gleichen sich ihnen an, man nennt das wohl auch Assimilation. Die Assimilation
oder Verschmelzung der Muskelresiduen mit den zugehörigen Muskelempfindungen
hat zur Folge, daß der Sensible, wenn er erwachsen ist, auf äußere Reize hin anders
reagiert als in der Kindheit. Die Zierlichkeits-Muskelresiduen werden nun in unserem
Fall auch durch den Rhythmus des Mörikeschen Verses ausgelöst.«

Ich zitiere diese Stelle des Buches (S. 44 f.), weil sich in ihr die Scherrersche
Sensibilitäts- und Gefühlstheorie aufs deutlichste ausspricht. Die großen Mängel
sind sofort sichtbar. Abgesehen davon, daß das Vorhandensein derartiger Phäno-
mene, wie schon bemerkt wurde, niemals die ästhetische Wirkung selbst zu erklären
vermag, sondern nur eventuell die unerläßliche Bedingung für den lyrischen Gegen-
stand bilden kann, besteht auch die Schwierigkeit, die Übereinstimmung des rhyth-
mischen Ausdrucks mit dem Sinn der Worte da festzustellen, wo dieser jegliche
Beziehung auf ein Bewegungsmoment vermissen läßt. Es ist daher bezeichnend,
daß in allen Beispielen, die Scherrer zur Verdeutlichung des materialen Gestaltungs-
prinzips heranzieht, dieses Bewegungsmoment eine hervorragende Rolle spielt. Des
weiteren wird nicht recht verständlich, welche besondere Funktion das Muskelgedächt-
nis eigentlich üben soll, wenn die Empfindungen, von denen die Residuen herstam-
men, denjenigen, welche sie erregen, gleichartig sind. Es bieten dann ja die Muskel-
sensationen, welche durch den Rhythmus des Verses erzeugt werden, an und für sich
eine genügende Basis für die Realisierung des materialen Gestaltungsprinzips, und
ob sich ihnen noch ein Muskelgedächtnis assimiliert, ist ohne jeden Belang. Auch wird
unler diesen Umständen zwar die leichtere Empfänglichkeit für wiederholte Eindrücke,
nicht aber die qualitativ andersartige Reaktion, von welcher Scherrer spricht, erklärlich.

Trotzdem will es mir scheinen, als ob dieser so wenig ansprechenden Kon-
zeption eines Muskelgedächtnisses eine richtige Beobachtung zugrunde liegt, deren
fundamentale Bedeutung für die Gefühlstheoria sich nur deshalb nicht voll aus-
wirken kann, weil von den Besonderheiten des vorliegenden Falles (Bewegungs-
gefühle) nicht genügend abgesehen wird und auch die der Assoziationspsychologie
 
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