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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0125
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112

BESPRECHUNGEN.

entnommenen Begriffe ein für die hier erforderte phänomenologische Analyse gänz-
lich unzulängliches Werkzeug darstellen. Die Beobachtung besteht darin, daß die
•Färbungen', »Stimmungen«, »Gefühle«, welche die einzigartige Ausdrucksnuance
eines Verses ausmachen, als psychische Phänomene erkannt werden, die gleich den
Vorstellungen (Scherrer identifiziert sie grober Weise mit ihnen) früheren Eindrücken
entstammen und auch rein phänomenal (die Scherrersche Assimilation deutet darauf
hin) eine bestimmte Beziehung zu ihnen aufweisen.

Weitaus günstiger als die allgemeinen Ausführungen sind die Einzelanalysen
zu beurteilen, welche das Buch in großer Anzahl bietet. Hier kommt die gute Be-
obachtungsgabe des Autors im Verein mit seinem feinen Verständnis für das lyri-
sche Kunstwerk voll zur Geltung. Nur das Ausgehen vom darzustellenden Gegen-
stand (Wirklichkeitserlebnis), das letzterdings wohl aus einer falschen Theorie des
ästhetischen Wertes entspringt, beeinflußt gelegentlich auch die Einstellung dem
Gedicht gegenüber. So bemerkt Scherrer zur 11. Strophe des Mörikeschen Gedichtes
Besuch in Urach«: »Der Dichter muß nun rhythmisch-kinästhetisch ein möglichst
wirksames Reproduktionsmotiv schaffen, das gleichsam magnetisch das Gesamt-
gewittererlebnis an sich zieht. Das gelingt Mörike, wenn er die Illusion des Gewitters
in seiner großartigen Natursymphonie .Besuch in Urach' gestaltet. Das Wesentliche
am Gewitter ist da, nur den Blitz hat er vergessen.« Mit dem »wirksamen Repro-
duktionsmotiv« ist aber künstlerisch gar nichts gewonnen, da z. B. jeder Gegenstand
der Erinnerung, auch wenn er gar keine ästhetisch wertvolle Formung aufweist, ein
solches darstellen kann. Daher ist auch der Blitz ausdrucksmäßig (bedeutungsmäßig
bringt ihn die 12. Strophe) nicht deshalb gefordert, weil er zum notwendigen Inven-
tar des Gewitters gehört; nur wenn irgendwie das Gedicht selbst seine Setzung
verlangt, kann von einem Vergessen die Rede sein. In den Beispielen findet vor
allem, wie schon bemerkt, der Ausdruck der verschiedenartigsten Bewegungsgefühle
seine Darstellung. »Sehnsucht«, »Fernegefühl , »Fausts Flug«, »Wallender, wogen-
der Nebel«, »Magische Bewegung«, »Stetige Drehung«, »Langsames Heben eines
schweren Hammers , »Pfeilschnelles und doch ganz zartes Schweben«, »Das Sinken
des Bechers«, »Mövenflug«, »Neigen und Biegen«, »Der Eichenwald im Sturm«,
- Religiöser Schauer«, »Blitzen«, »Sonnenaufgang«, »Drohendes Gewitter«, »Wonne-
jubel«: das sind die Themen, die behandelt werden, und es ist gut gesehen, wie
all diese körperlichen und geistigen Bewegungsmotive sich in der Rhythmik des
Verses auf die ihnen eigentümliche Art äußern. Aber auch der Bewegungsausdruck,
den »Grelles Leuchten«, »Die sterbende Meduse«, »Kampf zwischen Tag und Nacht«,
»Körperliche Plastik«, »Drückende Nähe , »Unmittelbare, aber nicht drückende Nähe«,
»Die erstaunte Frage«, »Warm und Kalt«, »Süß und Bitter« enthält, wird zumeist
recht überzeugend zur Aufzeigung gebracht. Das größte Kontingent der Beispiele
müssen Mörike und Goethe, die beiden Lyriker kaV exochen stellen. Über ihre
Eigenart und typisch gegensätzliche Stellung findet sich in dem Buche ebenfalls
eine Reihe ansprechender Bemerkungen. Wenn behauptet wird, daß sich in Goethes
Lyrik eine kollektive Auffassung ausspreche, in der Mörikes hingegen eine singuläre,
so ist das sicherlich richtig. Allerdings dürfte sich mit diesem Gegensatz auch der
eines mehr abstrakten und eines mehr konkreten Vorstellens verbinden. Auch was
zum Thema Aufmerksamkeit und Lust-Unlust gesagt wird, ist vielfach von Interesse,
wenn auch die Unzulänglichkeit der begrifflichen Fassung sich hier wiederum in
stärkerem Maße geltend macht. Alks in allem: das Scherrersche Buch wird manchem
Kunstwissenschaftler und Psychologen etwas bieten und darf mit Recht Beachtung
beanspruchen.

St. Wolfgang. Eduard Ortner.
 
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