Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

DOI article:
Besprechungen
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0126
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
BESPRECHUNGEN.

113

Marianne Thalniann, Gestaltungsfragen der Lyrik. Verlag der Hoch
schulbuchhandlung Max Hueber, München 1925. 126 S.
Das Buch geht von der Voraussetzung aus, daß in der Anordnung der Ge-
dichte innerhalb einer Gedichtsammlung eine lyrische Gestaltung vorliegt, und unter-
nimmt den Versuch, zwei gegensätzliche Typen dieser Gestaltung zur Aufzeigung
zu bringen. Ich kann nicht umhin, die Voraussetzung für gänzlich unbegründet zu
halten. Wenn es W. Brecht gelang, bei C. F. Meyers Gedichtband einen architek-
tonischen Aufbau nachzuweisen, so ergibt sich daraus noch keineswegs die Berech-
tigung, nun auch bei allen anderen Dichtern eine ähnliche Formung anzunehmen.
Daß eine solche überall da vorliegt, wo einem Dichter von Anbeginn an ein zykli-
sches Ganzes vorschwebte, ist ja selbstverständlich. Aber in jedem anderen Fall,
wo einzelne Gedichte ganz unabhängig voneinander als selbständige Kunstwerke
entstanden und nur der praktische Zweck der Herausgabe ihre Zusammenstellung
forderte, wird es schon die nüchterne Erwägung dieser Umstände als höchst zweifel-
haft erscheinen lassen, daß »in der Komposition des Gedichtbuches Werte von
ästhetischer Totalität liegen«. Sicherlich war es den meisten Dichtern vor allem um
ihre Gedichte zu tun, und wenn sie auf die »Komposition« des Buches ein beson-
deres Gewicht legten, so geschah es wiederum der einzelnen Gedichte wegen, denen
sie durch günstige Stellung und gute Auffindbarkeit Beachtung schaffen wollten,
nicht aber aus dem Bewußtsein heraus, der Aufbau des Bandes bedeute eine neuer-
liche Konzeption, ein neuerliches Tragen und Gebären, ein Einhauchen der Künstler-
seele und Schwingenspannen, um flügge in die Welt zu gehen«, und es sei »eine
Frage der künstlerischen Existenz, sich nicht stückweise, sondern in einem Ganzen,
- sich als ein Kosmos der Welt darzustellen . Sie setzten ja auch gar nicht voraus,
daß ihre Gedichte schön der Reihe nach und von A bis Z in einem Zuge gelesen
würden, wodurch allein die Auffassung eines derartigen Gesamtkunstwerkes zustande
kommen könnte. Wenn sie das recht verschiedenartige Gedichtmaterial, das ihnen
zur Verfügung stand, nicht wahllos in die Sammlung einstellten, sondern etwas
ordneten, so verfuhren sie nur nach einem allgemeinen Ordnungsprinzip, bei welchem
die verschiedensten Gesichtspunkte bestimmend sein können und welches mit ästhe-
tischer Gestaltung nicht das geringste zu tun hat. Aber auch da, wo eine solche
Gestaltung offensichtlich angestrebt wird, wie dies bei den Modernen häufiger der
Fall zu sein pflegt, ist diese durchaus nicht von vornherein als lyrische anzusprechen.
Sie kann auch, was sogar viel wahrscheinlicher ist, der epischen Kategorie ange-
hören, und sofern die einzelnen Gedichte wirklich nur als selbständige Bausteine
Verwendung finden, wird man nicht einmal von einem dichterischen Gestaltungs-
prinzip reden dürfen, da auch bei der Anordnung von Bildern, Musikstücken und
ähnlichem innerhalb eines Zyklus ganz dasselbe Prinzip wirksam erscheint. Somit
erweisen sich die Bindungsmomente, welche eine Gedichtsammlung beherrschen,
als höchst verschiedenartig und sind aus diesem Grunde auch ganz ungeeignet, als
Basis für repräsentative Typenbildung zu fungieren. Damit wird auch »die Voraus.
Satzung, daß im Konstruktiven etwas von der letzten Härte der Physiognomie eines
Künstlers ist, durch die er über seine eigene Persönlichkeit und individuelle Be-
grenztheit hinaus sich einem großen Kulturkreis einordnet«, hinfällig.

Wenn es der Verfasserin trotz alledem gelingt, auf jener Basis zwei stilprin-
zipielle Gestaltungen, eine »geometrische« und eine »organische» aufzustellen, so
liegt das wohl in der Hauptsache an einer Methode, welche die Tatsachen nur von
der jeweilig gewünschten Seite zu sehen erlaubt. Diese Methode gehört ja heute
sozusagen zum guten Ton eines sich stets weiter ausbreitenden wissenschaftlichen
Kreises und sie besteht datin, daß man sich mit souveräner Verachtung über jeg.

Ztitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XXII. 8
 
Annotationen