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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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Hoerner, Margarete: Der Manierismus als künstlerische Anschauungsform
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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0221
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BEMERKUNGEN.

Fenster in die Medicikapelle setzt, eine Einzelheit, an der man den Manierismus
auch einmal in der Architektur nachweisen kann. Da die Architektur ja mit bloßer
Richtungserstreckung wenig anfangen kann, sich irgendwie doch immer schließen
muß, greift sie zu schwer merkbaren'), d.h. leicht veränderlichen Formen: Trapez
und Oval. Kreis, Quadrat und das im goldenen Schnitt angelegte Rechteck läßt
nicht an sich rütteln, es sind »Formen« schlechthin. Über das Trapez gleitet der
Blick immer wieder hinaus. Man versuche nur einmal, sich ein beliebiges Trapez
als Form zu merken! Es wird in der Erinnerung immer steiler werden. Ein Rechteck
im goldenen Schnitt bringt jeder aus dem Gedächtnis auch ohne Zirkel leidlich
richtig zustande.

Man versteht von hier aus vielleicht, warum wir den Begriff des Plastischen
für Klassik und Barock gleichzeitig in Anspruch nehmen. Plastisch als »körperliche
im Gegensatz zu »unkörperlich«. So sehr der Barock sich auf den bloßen Schein
einläßt und mit gleichsam trügerischen Mitteln seine Körper baut, er negiert sie
nicht. Nur sind ihm Licht und Atmosphäre die eigentliche Materie, mit der er ge-
staltet im Gegensatz zu der festen, greifbaren Körperlichkeit der Klassik. Der
Manierismus versucht bis zu einem gewissen Grade ohne die Materie auszukommen.
Er möchte nur die bloße Erstreckung, die Beziehung des Einzelnen zueinander be-
zeichnen. Wer denkt dabei nicht an die heutige Physik, der die Materie in gleicher
Weise nur ein »Kraftfeld« ist, ein Beziehungssystem? Ein manieristisches Bild wirkt
häufig wie ein solches KraftFeld, dessen Bahnen durch geheimnisvolle, von außen
her wirkende Mächte gezogen sind.

»Von außen her«, da, wie wir sagten, der Manierismus keine Eigenbewegung
kennt. Alles in ihm wird bewegt, wartet auf Bewegung. Die barocke Kunst ist vor-
züglich die Kunst der Eigenbewegung, der aus dem Bildwerk hervorstrahlenden,
zentrisch aus ihm hervorgehenden Kraftströme. Die klassische Kunst findet ihre
Vollendung in der Aufhebung aller Spannungen. Sie ist somit nicht bewegungslos,
sondern enthält jene latent verborgenen, im Gleichgewicht gehaltenen Kräftegegen-
sätze, die im Kontrapost ihr Spiel entfalten, ständig neu sich entfaltend, ständig im
Kunstwerk selbst wieder gelöst und zur Ruhe gelangend. Dem gegenüber kennt
der Manierismus keine Eigenbewegung. Er ist spannungslos, da er stets Verbin-
dungen, nie Gegensätze schafft, als Verbindung ist er aber stets aufnahmefähig für
Bewegungsdurchlaß. So empfindet man eine gotische Figur als vom Winde oder
von einer übersinnlichen Kraft gebeugt, eine barocke ringt in eigener Qual mit sich
selbst, schleudert Bewegung aus sich heraus. Die Eigenbewegung, die den zwei
gegensätzlichen Elementen Barock und Klassik eigen ist, ruht im Manierismus. Es
kann in der Tat jegliche Bewegung fehlen, eine absolute Stille eintreten. Sie bleibt
aber Stille vor dem Sturm. Sie ist nicht gesichert.

Es ist wundersam zu sehen, wie die manieristische Formentfremdung zusammen
mit der manieristischen Bewegung das Körperideal beeinflußt. Spitze Köpfe, schmale
Schultern, breite Hüften mit langen Oberschenkeln, winzige Füßchen kennzeichnen
den männlichen wie den weiblichen Akt im späteren 16. wie im 18. Jahrhundert.
Es ist nicht erstaunlich, daß es manchmal schwer fällt, plastische Werke aus den
beiden Jahrhunderten auseinanderzuhalten. Das gotische 14. Jahrhundert ging in
der Entkörperlichung und Streckung der Figur sehr viel weiter, aber auch hier fehlt
selten die Betonung der Hüftlinie durch Faltenstauungen, während an den Füßen
alle Linien sich strahlig sammeln und über die Figur hinauszueilen scheinen. Der

') Vgl. a. P. Frankls »Infinitesimalräume! (Die Entwicklungsphasen der neueren
Baukunst. Leipzig u. Berlin 1914).
 
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