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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0230
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BESPRECHUNGEN.

217

analysiert werden sollen. Keineswegs aber darf ein einzelner dieser Werte — etwa
die Form, wie es heute beliebt ist — als einziger Kunstwert angesehen werden.

Endlich die »Entwicklungsforschung« hat die Lebenszusammenhänge
aufzusuchen; sie hat die Ursachen der Kunsterscheinungen auf der Basis von Kunde
und Wesenswissenschaft aufzufinden. Sie hat zu untersuchen:

A. das Werden des Kunstwerkes (Anstoß zur Entstehung des Kunstwerkes, der
von jedem der Wertgebiete ausgehen kann; Mittel der Feststellung dieses Werdens:
Handzeichnungen, auch Fehler im vollendeten Werk, die den Kampf gegen Hem-
mungen andeuten, Wiederholungen desselben Sujets durch den Künstler usf.),

B. das Werden des Künstlers — nicht als bloße Biographie, in der Art der
Künstlerviten seit Vasari bis heute, sondern als das Werden der künstlerischen Indi-
vidualität,

C. das Werden von Kunstkreisen; wobei man sich besonders vor dem ver-
alteten Schema Altertum, Mittelalter, Neuzeit zu hüten hat,

D. das Werden von Kunstströmen,

E. der Kunst überhaupt — wobei es keinen einheitlichen Zentralpunkt derselben
gibt, wie ihn die Humanisten (Wickhoff) im Griechentum gesucht haben.

Die Entwicklungskräfte werden gesichtet:

1. Nach »beharrenden Kräften«, den meist unbewußten, eigentlichen
Motoren der Kunstentwicklung, die äußere und innere Natur, die im Kunstwerk
zum Ausdruck kommt.

A. Umgebung: Lage (der Gegensatz von Süd und Nord wichtiger als der zwi-
schen Antike und Abendland!), Bodengestalt (Täler, Flüsse, Pässe, Gebirge usw.
als Kräfte, welche die Kunstentwicklung durch die Möglichkeiten des Verkehrs, der
Wanderung usf. beeinflussen), Rohstoffe (Holz und Stein und die daraus hervor-
gehenden, architektonischen Formen), geistig gewordene Urströme (Nord und Süd,
in ihrer verschiedenen Wirkung auf das Gemüt),

B. eingeborene Natur (Instinkt), und zwar nach Gemeinschaft (Oberschicht als
Träger des »Willens«, Unterschicht eigentlich produktiv), Geschlecht, Einzelwesen
(Charakter und Temperament).

2. Den beharrenden, eigentlich künstlerisch schöpferischen Kräften stehen gegen-
über die -Willensmächte«, die Auftraggeber, welche dem Künstler einerseits die
Möglichkeit zu seinem Schaffen geben, die aber anderseits die natürliche Entwick-
lung oft stören und hemmen. Das »Kunstwollen« ist der eigentliche Schöpfer der Stile,
die von ihm der Gesamtheit aufgezwungen werden, und die oft genug im Gegensatz
zur schöpferischen Individualität stehen. Der Träger des Kunstwollens ist die Ober-
schicht, deren größtes Produkt die Stadt ist. Das beste Beispiel für die Wirksamkeit
der Willenskräfte sind die beiden Barocke in der griechischen und abendländischen
Welt, beide auf Machtbestrebungen (dort: der kleinasiatischen Fürsten, hier: der
katholischen Kirche) beruhend. Aber beide Erscheinungen bleiben an der Oberfläche
— in der Tiefe wirken dem Willen der Macht entgegen die schöpferischen Kräfte
der Unterschicht: in dem hellenistischen Barock der aufkeimende, iranische Kunst-
strom, in der abendländischen, gegenüber dem südlichen Prunk der Jesuiten, der fort-
lebende, uralte nordische Strom. Das »Kunstwollen« bringt keinen Künstler hervor,
sondern vermag ihn nur zu beschäftigen; es wirkt dadurch, daß die Kunstformen,
die es von anderswoher übernimmt, in großartigen Dimensionen und mit kostbarem
Prunk hergestellt werden (»Aufmachung ); ferner dadurch, daß es altbekannte, histo-
risch geheiligte Formen übernimmt, sowie die Symbole seiner eigenen Macht mög-
lichst verbreitet (»Übertragung«).

3. »Kräfte der Bewegung« sind plötzliche Umstürze, allmähliche Umbie-
 
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