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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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Bruch, Bernhard: Novelle und Tragödie: Zwei Kunstformen und Weltanschauungen: (Ein Problem aus der Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts)
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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0307
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BERNHARD BRUCH.

zufällig ausgewählten Teilinhalte aus dem unendlichen Zusammenhange
eines Ganzen.

Und dennoch ist es selber in doppeltem Sinne ein Ganzes. Es ist
erstens, seinem Stoffe wie seinem Geiste nach, in sich selber abge-
schlossen und einheitlich — eine in sich vollkommene Totalität. In
seinem Sonderdasein ist es hinausgerückt aus jeder teilhaften Beziehung
zum übrigen Zusammenhange der Welt, es deutet auf nichts außer ihm
mehr hin. Weiterhin aber ist in solchem Sinne nicht allein das dichte-
rische Kunstwerk als Sondergebilde ein Ganzes und von eigener Ge-
setzlichkeit, — sondern man kann von ihm wohl sagen, daß es darüber
hinaus auch noch auf seine Weise das Lebensganze enthält. Zwar das
Ganze des Lebens nicht seinen Inhalten nach, — in einer rein for-
malen Weise freilich aber doch das Ganze. Wirklich und tatsächlich
ist es vollkommenes und symbolisches Bild der Welt, nicht bloß eines
willkürlich herausgegriffenen Teiles von ihr. Als Bild bloß eines ihrer
Bruchstücke erschien das Kunstwerk notwendig durch seinen stoff-
lichen und geistigen Inhalt. Was es dennoch zum völligen und sym-
bolischen Bilde der Welt schlechthin erhebt, ist seine Form. Diese
spricht immer, über jedes Teilhaft-Einmalige des einzelnen Inhaltes
oder Erlebnisses hinausgehend schon von der Ganzheit des Daseins
und meint sie mit, auch wo nur vom Einzelnen die Rede zu sein
schien.

Denn »Form«, sie kann man in solchem Zusammenhange bezeich-
nen als eine Art und einen Gesichtspunkt, die Welt und die Dinge zu
sehen, sie zu erfassen. Und mag das dichterische Werk noch so sehr
Darstellung und Ausdruck irgendwelcher gänzlich besonderen stoff-
lichen oder geistigen Inhalte sein, immer führt die geistige Perspektive,
die Seelenhaltung, aus der heraus alle jene besonderen Inhalte emp-
funden und dargestellt sind, über sie hinaus auf das Ganze des Da-
seins, vermöge der gleichsam selbsttätig wirkenden und ganz unver-
meidlich weitertragenden Kraft der Verlängerung, die einer jeden Per-
spektive innewohnt. So ist denn die künstlerische Form des Werkes
jedesmal im Grunde zugleich die Form einer Welt: Ist die Form, unter
welcher, oder als welche, jeweils die Welt zum Erlebnis wurde. Min-
destens ließe sich sagen, daß für den geringen Zeitraum des schöpfe-
rischen Augenblicks diese Form für den Künstler die Form der Welt
bedeutete und repräsentierte. Form und Gehalt sind eins, sind iden-
tisch1), und sind immer beide über die jeweils zu gestaltenden be-

') »Form und Gehalt sind eins, sind identisch« — nämlich: eben daß in einem
Kunstwerke die Inhalte der Welt unter jener besonderen Sehart und perspektivischen
Form erscheinen, das, und nichts anderes sonst, macht ja den jedesmaligen geistigen
Gehalt des Kunstwerkes aus. Wie Nietzsche sagt: »Man ist um den Preis Künstler,
 
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