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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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Bruch, Bernhard: Novelle und Tragödie: Zwei Kunstformen und Weltanschauungen: (Ein Problem aus der Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts)
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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0323
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310 BERNHARD BRUCH.

der Herrschaft des Milieugedankens leicht allzuviel vom Gedanken der
individuellen Persönlichkeitsbestimmtheit in einem Schicksal. Aber
selten gehören solche Geschichten zu den wirklichen großen Schöpf-
ungen der novellistischen Form. In diesen ist fast immer der Schicksals-
gedanke durchaus metaphysisch und reicht ausgesprochen an die Idee
der Prädestination einer bestimmten Person zu ihrem Schicksal heran.
In jeweils verschieden starker Ausformung variiert immer so alle be-
deutende neuere Novellistik Motiv und Problem des Prädestinations-
gedankens. — Beiläufig erscheint hierin besonders die große Wand-
lung der Novelle im IQ. Jahrhundert gegenüber der altitalienischen (vgl.
S. 1), die, in ihrem Weltbild und ihren Charakteren von typisierender
Allgemeingültigkeit, eine absolut diesseitig-unmetaphysisch gerichtete
und in jedem Sinne gesellschaftliche Kunstform gewesen war1). Die
moderne Novelle ist, im Grade ihrer zunehmenden gesamten Struktur-
annäherung an den strengen Tragödienstil, auch in dem metaphysischen
Charakter der in ihr gestalteten Gehalte und Probleme der Tragödie
gefolgt. Nur tat sie es in entgegengesetzter Tendenz, wie sie in allem
ihr mehr oder minder genau durchgeführtes Gegenbild ist. Die meta-
physische Weltanschauung der Tragödie zeigt den Menschen in
einem für ihn zerstörenden Widerstreit mit irgendwelchen allgemein-
gültigen Ordnungen der Welt. Die Novelle zeigt ihn, wie er, ganz per-
sönlich und insbesondere, von den transzendenten Mächten schlechthin
gelenkt wird bis in seine schließliche Vernichtung, ohne daß er zur
Welt in irgend einem Widerspruche sich befände. Dieser modernen
großen metaphysischen Novellenform gegenüber erscheinen uns alle
heutigen Erneuerungen der älteren Form, wie z. B. die Paul Emsts,
bei aller vollendeten Meisterschaft notwendig als etwas zu leicht und
als mit dem Auffallenden und Merkwürdigen zu sehr nur gespielt. Sie
sind Nachbildungen eines Stils, der heute fast nur noch Berechnung
zu sein vermag, der jedenfalls, trotz großer Anmut und Schönheit im
einzelnen, der wesentlich unsere hinfort nicht mehr sein kann, weil er
das Eigenste unserer Seele nicht mehr ausdrückt. Novellen dieses Stils
werden immer lediglich noch peripherische Bedeutung innerhalb der
Geschichte unserer Dichtung behalten.

Es gibt eine untrügliche Probe, ob in einem Drama, beziehungs-
weise in einer Novelle, die Art der darin ausgesprochenen metaphysi-
schen Schicksalsdeutung der betreffenden Form gemäß ist oder nicht.
Wo ein privates und einmaliges, ein grauenhaft unfreies und gebundenes
Menschenschicksal im Drama statt in der Novelle erscheint, rächt sich

') Vgl. Erich Auerbach, »Zur Technik der Frührenaissanceiiovelle in Italien und
Frankreich«, Heidelberg 1921 (Dissert.).
 
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