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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0349
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336

BESPRECHUNGEN.

sondern »ein einziges Erkenntnismittel dürfen wir nur anerkennen, und das ist das
Gefühl«. Dasjenige, was vom Gefühl ergriffen werden soll, ist die Farbe. »Alles ist
Farbe.« »Außer der Farbe existiert nichts im Kunstwerke, das uns vom Inhalte mit-
teilen könnte; weder eine konkrete noch eine abstrakte Denkform, d. h. weder die
gegenständliche Darstellung noch Linien, Flächen oder Kompositionseigentümlich-
keiten . . .« Warum bei der Erkenntnis der hohen Wichtigkeit der Farbe alles andere
künstlerisch Bedeutsame, wie Linienführung, Komposition und das noch wenig ge-
klärte Problem des Zusammenhangs von künstlerischer Form und gedanklichem,
dichterischem oder religiösem Thema, dem sich der Künstler in seinem Werk ver-
bindet, völlig verschwinden muß, ist nicht einzusehen.

Ein Gefühlsinhalt der Farbe ist nach Zierer ihre Schwere. Sie ist keine optisch
greifbare Eigenschaft, wie es ihre »sinnlichen« sind, rot, blau, grün z. B., sondern
eine nur gefühlsmäßig abzuschätzende. Die Farbschwere aber ist in der Ziererschen
Form überhaupt keine Eigenschaft; denn der Ausdruck »Schwere« ist bei der Farbe
nur bildlich zu brauchen und hätte einer begrifflichen Erläuterung bedurft, wenn er
als Grundlage eines kunstphilosophischen und zuletzt auch metaphysischen Systems
hätte berechtigt sein sollen.

Schwere Farben sinken zum unteren Bildrand, leichte scheinen zu steigen. Die
Einzelgewichte der Farbtöne eines Bildes sollen summiert werden und das Resultat
dieser Schwereaddition soll den Größenfaktor eines Bewegungseindrucks abgeben,
den das Bild hervorruft. Die Richtung dieser Bewegung wird bestimm! durch Ge-
stalt und Schwere der einzelnen Farbflecken. Diejenige Richtung, in welche ihre
größte Erstreckung fällt, weist der Bewegung den Weg. Die aus dem Bild heraus-
zufühlende Gesamtbewegung ist diejenige, welche aus den Bewegungskomponenten
der Einzelfarben gewonnen wird, wenn diese sich untereinander und mit einem vom
Betrachtenden gelieferten psychischen Beziehungspunkt nach der Art des Parallelo-
gramms der Kräfte auseinandergesetzt haben.

Das Erkennen der Farbschweren und Farbbewegungen soll dadurch möglich
werden, daß wir diese auf einen in uns verankerten festen (stabilen) psychischen
Pol beziehen, einen von Zierer »Schwerkraftgefühl« wiederum bildlich benannten
seelischen Zustand, der durch unsre »Gebundenheit an die Erde«, »die Fessel der
Menschheit an Planet und Laune«, »die Willkür des Erdklumpens«, »die Fratze des
Daseins« verschuldet ist. Auf diesen ruhenden Pol, das stabile Schwerkraftgefühl,
soll das polare Bewegungs-(Kunst-) Gefühl der Farbflecken eines Bildes wirken:
»Wir lernen nach Befreiung streben«, wenn wir jenes im Bild uns erscheinende
naturferne, freiere Bewegungsgefühl erkennen; von der Stabilität unsres natürlich
erdgebundenen Schwerkraftgefühls gehen wir zur Labilität desselben über.

Das stabile Schwerkraftgefühl erhäli die Berechtigung, als objektiv gesicherte
Grundlage einer wissenschaftlich-philosophischen Anschauung zu gelten mit Hilfe
des Satzes: »Das Schvverkraftgefühl ist Eigentum eines jeden Menschen und immer
von gleicher Stärke; darin liegt seine Universalität und Objektivität für wissenschaft-
liche Verwendung.« Diesem fundamentalen Satz aber bleibt der Verfasser außer
seiner inneren Glaubwürdigkeit auch den Beweis schuldig.

Zur näheren Charakteristik des grundlegenden Schwerkraftgefühls hält Zierer
die Tatsache für bedeutsam, daß ihm jede qualitative Eigenschaft« der Lust oder
Unlust fehle. Bei der ersten Schlagwortcharakterisierung des fraglichen Gefühls mit
Hilfe der Ausdrücke »Fessel der Menschheit, Gebundenheit an die Erde, Fratze des
Daseins« schien eine starke Abhängigkeit von der Lust-Unlust Kontrastwirkung ge-
rade für dieses Gefühl wesentlich zu sein. Überhaupt ist es widerspruchsvoll, aus
einer »Gefühl« benannten Form der geistigen Verfassung die »Qualität« zu streichen.
 
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