Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

DOI Artikel:
Duve, Helmuth: Das Bewegungsprinzip in der Skulptur
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0452
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
DAS BEWEGUNGSPRINZIP IN DER SKULPTUR.

439

in der Wirkung aufgehoben, sofern sie sich für die Fernansicht gegen
den architektonischen Hintergrund, beziehungsweise gegen den Himmel,
als Silhouette scharf abhebt. Sie wirkt wie die gemeißelte Wandzeich-
nung lediglich durch den Kontur, auf den sie mittels Abstraktion aus
der dreidimensionalen Naturform reduziert und fest an die Fläche ge-
bunden erscheint; so verneint sie sich selbst und den Raum und ver-
zichtet auf Bewegung. Die Vertikaltendenz der stehenden und sitzenden
Figuren wird dadurch verstärkt, daß die Glieder des Körpers eng an-
liegen und dem symmetrischen Aufbau sich einfügen. Die Verneinung
der Form (und des Raumes) und der Verzicht auf Bewegung (auf die
Zeit), beweist die Lebensfeindlichkeit, Jenseitigkeit, Transzendenz jenes
Kunstwollens, das für alle Bereiche typisch ist, in denen die staatliche
Macht der religiösen untergeordnet ist oder beide unlösbar miteinander
verknüpft sind. (Byzantinische und buddhistische Kunst.)

Den Übergang von diesem, die organische Körperwelt verneinen-
den Kunstwollen zur diesseitsbewußten Anschauung lebendiger Natur-
wirklichkeit zeigt die archaische Entwicklungsphase griechischer Kunst
allmählich. Noch der Apoll aus Tenea (um 600 v. Chr.) verrät die sym-
metrische Frontalkomposition ägyptischer Vorbilder, aber das leichte
Lächeln und die Vorstellung des linken Fußes weisen schon darüber
hinaus. Bezeichnend für die Folgezeit wird die zunehmende Lockerung
der Gliedmaßen, die Unterscheidung von Stand- und Spielbein, die
Darstellung korrespondierender und kontrastierender Arm- und Bein-
stellung (Gruppe des Hermodias und Aristogeiton), kurz gesagt: die
Gewinnung völliger Bewegungsfreiheit im Rahmen des künstlerisch Zu-
lässigen und fast darüber hinaus wie im Laokoon. Wie das Ausmaß
der Skulptur der Größe des Naturvorbildes sich anpaßt, so die Lage-
rung der Massen den tatsächlichen Verhältnissen; aber die Realität wird
nicht kopiert, sondern idealisiert. Die Form wird schließlich in ihrer
Erscheinung so eigenwertig, so durch sich selbst geltend, daß sie den
Raum von sich abweist und dieser weder positiven noch negativen
Anteil an ihr nimmt. Das ist im Bereich antiker Kunst der Fall. Die
Form sättigt sich mit Bewegung, die sie veranschaulicht, so daß der
Eindruck der gestalteten Masse gerade noch dem Ausdruck der auf-
gefaßten Bewegung die Wage hält. Das >equilibre« oder i contrebalan-
cement des masses , von dem Rodin im Hinblick auf die Meisterwerke
griechischer Plastik spricht, appelliert an die motorische Seite der Auf-
fassung, und diese bewirkt es, daß der sich einfühlende Betrachter
mitagiert und in der dem Kunstwerk innewohnenden Harmonie sein
eigenes inneres Gleichgewicht wiederfindet. Der Mensch wird zum
Maß aller Dinge; seine Bewegungsfreiheit in den Grenzen des Mög-
lichen macht die Plastik sichtbar. Die Begrenzung der skulpturalen
 
Annotationen