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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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Duve, Helmuth: Das Bewegungsprinzip in der Skulptur
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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0456
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DAS BEWEGUNGSPRINZIP IN DER SKULPTUR.

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ist, in der Hermenbüste Homers (2. Jahrhundert v. Chr.), im Kopf
Michelangelos von Daniele da Volterra, in der Büste Jean Paul Laurens
von Rodin. Wenn bei Michelangelo, der an der Wende der antiken
zur modernen Kunstgesinnung steht, die innere Ausdrucksbewegung
gegen einen unsichtbaren äußeren Zwang sich aufzubäumen scheint,
wie dies die meisten seiner Skulpturen, besonders die Bozetti seiner
Gefangenen verraten, so liegt das an dem Gegensatz zwischen Wollen
und Können, am Widerstreit zwischen Erlebnisnotwendigkeit und Form-
möglichkeit, wobei dem gesteigerten psychischen Gehalt, für den er
die adäquate Form suchte, die physisch bedingte Gestalt zu eng war
oder ein überstarkes Erleben die an Material und Technik gebundene,
unbedingt geltende Gestaltungsgesetzlichkeit sprengte.

Skulpturen vor architektonischem Hintergrund dürfen nach Adolf
Hildebrandts Theorie keine Eigenbewegung haben, die dem Rahmen
der Gesamterscheinung zuwiderlaufen; sie sollen sich der Gesamt-
wirkung einordnen und unterordnen; sie sind letzten Endes nur orna-
mentale oder dekorative Attribute der architektonischen Komposition,
Gestalten, die dem statischen Grundgesetz des Ganzen, zu dem sie
gehören, unterworfen sind und denen nur Bewegung zukommt, sofern
die Vorstellung sich den Objekten assoziiert, während das Auge, vorn
beginnend und nach hinten zwangsläufig weitergleitend, das plastische
Erfülltsein und die zugehörige Raumtiefe ertastet. Ein eigenwillig dra-
matisches Handeln der Gestalten gegenüber dem architektonischen
Hintergrund, wie an Bartholome^ Monument aux Morts« (Pere La-
chaise, Paris), ist — vom Standpunkt Hildebrandts aus — künstlerisch
unzulässig.

Aber die Kunst kümmert sich wenig um die kanonischen Gesetze
eines ihrer Jünger, dem sie, je schöpferischer er an ihr teilnimmt, einen
um so tieferen Einblick in die Totalität ihrer Gestaltungsmöglichkeiten
gestattet. Sie will die gesamten Möglichkeiten, die sich ihr bieten, aus-
nutzen und versucht es immer wieder, die Grenzen der ihr aufge-
nötigten formalen Gesetzlichkeit zu durchbrechen, das Unbegrenzte,
das Unmögliche zu erreichen. Daß sie im Bereich der Skulptur zwi-
schen monumentaler Ruhe zu organischer Bewegung und von da aus
zu psychischer Exstatik tatsächlich eine reiche Skala von Eindrucks-
und Ausdrucksmöglichkeiten findet, haben wir zu zeigen uns bemüht;
sie wird aber diesen Möglichkeiten auch da gerecht, wo Skulpturen
in direkte Verbindung mit der Architektur treten, im Bereich der soge-
nannten dekorativen Plastik.

Die Skulpturen sind so Teile des Baukörpers, aber können daran
eine ganz verschiedene Bedeutung gewinnen. Die beiden assyrischen
Torwächter am Palast des Sinacherib in Kujundschik gehören nicht
 
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