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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0467
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BESPRECHUNGEN.

gelangen, die das Wesensgesetz des betrachteten Phänomens erfassen sollen. Dieses
Wesensgesetz ist aber nicht in einem ruhenden Idealtypus beschlossen, sondern
ist die Synthese einer ewig lebendigen Polarität. Alle dramatische Kunst ist letzten
Endes eine funktionelle Einheit, bei aller Vielgestaltigkeit ihrer Formen. »Alles
Lebendige verläuft wie ein Kraftstrom zwischen entgegengesetzten Polen; und wer
die wesentliche Polarität einer Kulturströmung, einer Kunst, einer Dichtungsgattung
erfaßt hat, der wird der Fülle und der anscheinenden Verworrenheit ihrer Erschei-
nungsformen nicht mehr ratlos gegenüberstehen.» Diese beiden letzten Formen und
Pole des Dramas (im Sinne von Bühnendichtung) sind der Mimus und die lite-
rarische Bühnendichtung, die Petsch das »Drama im engeren Sinn nennt. Der
Mimus (der hier nicht im Sinne von H. Reich als literarhistorische Entwicklungs-
kette, sondern als Typus gefaßt wird) bezeichnet den Komplex des Motorisch-
Mimisch-Bewegten '), Visuellen, aller extensiv-dramatischen Wirkungsmittel, während
das »eigentliche Drama« das Innerliche, Geistige miteinbezieht. Im Mimus und im
literarischen Drama handelt es sich um die erregende Darstellung eines von Grund
auf Bewegten, Lebendigen; das ist ja eben das Wesen dieser Gattung. »Nur bleibt
der primitivere ,Mimus' im ganzen bei den äußeren Erscheinungen, bei ihren sprung-
und ruckweisen Bewegungen stehen, verwendet sie als Symbole ähnlich gewerteter
seelischer Vorgänge und Tatsachen und sucht sie zugleich in ihrem eigentümlichen
kinetischen Reize zu erfassen; das eigentliche ,Drama' aber dringt zu den nicht
mehr unmittelbar erscheinenden' Bewegungsursachen vor, tastet die ganze Ton-
leiter menschlicher Affekte ab und langt endlich bei der Ahnung eines in sich auf-
gewühlten Weltgrundes an.« Die Bühnenkunst pendelt also zwischen dem reinen
Mimus und dem geistigen Drama, das sich immer wieder von der »kinetischen«
Naturnachahmung loszulösen trachtet, hin und her. An beiden Enden stehen immer
Theaterstück und Buchdrama. Es wird nun freilich nicht ganz klar, ob die exten-
sive Theatralik des Theaterstücks und die intensive Literaturmäßigkeit des Buch-
ciramas Entartungen oder letzte Konsequenzen sind. Daß Mimus und eigentliches
Drama einander befruchten müssen, wird betont, daß aber wirkliche Höchst-
leistungen (wie sie z. B. das Drama Shakespeares bringt) nie auf dem Boden des
einen oder anderen Pols, sondern nur in lebendiger Synthese der Pole zu erreichen
sind, kommt nicht genügend heraus. Der nächste Aufsatz »Chor und Volk im antiken
und modernen Drama« geht von einer Äußerung W. Scherers aus, die eine engere
Verwandtschaft zwischen dem Chorder »Braut von Messina« und ähnlichen Massen-
gebilden in anderen Dramen Schillers, die wir kurzweg »Volk« benennen, behauptet.
Petsch erweitert die Frage dahin, ob zwischen dem Chor der Alten, den Schiller
im genannten Drama nachbilden wollte, und den Ensembleszenen des modernen
Dramas tiefere Zusammenhänge bestehen. Diese Frage wird mit Kenntnisreichtum
und Feinsinn durch eine großzügige Betrachtung der Entwicklung des Dramas be-
antwortet. In der Antike ist der Chor nur scheinbar dramatische Partei: seine Funk-
tion ist im wesentlichen lyrisch. Bei Aischylos ist er der »idealisierte Zuschauer .
Bei Sophokles ist der Chor die philiströse Masse, die der ragenden Heldenpersön-
lichkeit als Folie dient. In den Dramen des Euripides entfernen sich die Chor-
gesänge mehr und mehr von der eigentlichen Handlung und tragen allgemein ge-
haltene Ausführungen vor. Dem Dichter ist der Chor unbequem; ersucht ihn irgend-
wie notdürftig zu beschäftigen. »Als sich dann das Seelenleben der dramatischen

') Die Rolle des Motorischen für das Gesamtgebiet alles Dramatischen hat
neuerdings R. Hartl in seinem »Versuch einer psychologischen Grundlegung der
Dichtungsgattungen« (1924) mit Nachdruck hervorgehoben.
 
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