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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0486
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BESPRECHUNGEN.

473

wandten Gesamtarbeit des Buches, nicht eben viel. Wird etwa im Anschluß an
Bergson der Begriff der gelebten Zeit, der Dauer behandelt, oder ähnlich Simmel
die These verfochten, daß aus dem unendlich Bewegten des Lebens allerorten end-
lich Begrenztes sich heraushebe (-Selbsttranszendenz des Lebens«), das gerade
Gegenstand der Geisteswissenschaft sei, daß in solcher Hinsicht alle geisteswissen-
schaftliche Forschung Formung sei und anderes mehr, so lassen sich dergleichen oft
feine und treffende Gedanken für literaturgeschichtliche Arbeit doch kaum weiter aus-
werten als zu der Erkenntnis und dem Willen, auch in ihr durch die Deckschicht
der Zahlen, Daten und äußeren Tatsachen durchzustoßen zu wesenhafteren Ergeb-
nissen von Lebensantrieb und Lebenssinn.

Diese Notwendigkeit neuzeitlicher Literaturwissenschaft ließ sich jedoch meines
Erachtens einleuchtend machen auch ohne solchen Aufwand an teilweise doch
etwas weit herbemüht erscheinenden Erörterungen, wie sie denn, dünkt mich, ein-
leuchtend war auch ohne die heute geübte emphatische Verkündung der geistes-
wissenschaftlichen Literaturgeschichte, der auch Cysarz huldigt. Cysarz nennt einmal
die »neue« Literaturwissenschaft gegenüber der sonst gepflegten ein Tanzen gegen-
über dem Gehen. Liegt einerseits in solchem Bild trotz der wiederholt versicherten
Anerkennung der alten- Literaturgeschichte zweifellos ein Stück Verachtung ihrer,
so lassen sich ihm anderseits noch Folgerungen entnehmen, die der Verfasser
schwerlich beabsichtigt hat. Ist nämlich Gehen eine zweckhafte Leistung, so ist
Tanzen ein zweckfreies Spiel. Auf geisteswissenschaftliche Arbeit, die doch auch
stets Erkenntnisarbeit sein will, angewendet, scheint mir das zu besagen, die auf
Tatsachenfesfstellung gründende Erkenntnisarbeit sei nur minder wertvolle Vor-
bereitung und Zurüstung für zweckfreies Deuten an und Ausdeuten von geistes-
wissenschaftlichen Tatsachen, ja letztlich zur Mitteilung von Wesensdeutungen,
Wesenseindrücken des einzelnen Forschers. Man sieht, nur eine sehr schmale Grenze
liegt dann zwischen Wissenschaft (= Tatsachenerkenntnis) und Dichtung (= Tat-
sachendeutung). Mit Recht zwar unterscheidet Cysarz Sinn-Findung von Sinn-
Gebung — erstere ermittelt einen in Tatsachen vorfindbar bestehenden Sinn ,
letztere erfindet an den Tatsachen nicht erweisbare, wenn auch mögliche -Sinn-
Beziehungen —; bleibt die geisteswissenschaftliche Literaturgeschichte aber Sinn-
Findung, so bleibt sie stets auch dem gern verachteten Stoff des Nur-Tatsächlichen
verhaftet, wird sie dagegen Sinn-Gebung, so hört sie auf, Wissenschaft zu sein.
Und glaubt Cysarz wohl, daß seine eigenen oder etwa Gundolfs oder Simmels
oder überhaupt eines einzelnen persönliche Eindrücke von Dichtern und Dichtung,
wenn nicht unbedingt und lückenlos auf Tatsachen fußend, belangvoll genug seien,
um als Wissenschaft- geschätzt zu werden?

Solche Zweifel müssen dem besonnenen Leser von Cysarz' wissenschaftsmetho-
dischen Erörterungen meines Erachtens notwendig kommen. Ich will mit dem Ver-
fasser über Einzelheiten seiner Grundlegungen garnicht rechten — das ist ange-
sichts des ungewöhnlich vielseitigen, allerdings wohl nicht durchweg systematisch
erforderlichen Inhalts, wollte man gründlich sein, einfach unmöglich —; verhängnis-
voll erscheint mir jedoch an diesem Buch wie an manchem gleichgerichteten das,
fast möchte ich sagen, krankhafte Bestreben der Gegenwart, wie auf anderen Ge-
bieten so auch auf dem der Literaturwissenschaft um alles originell, eigenartig
und von großem Format sein zu wollen und verächtlich auf unscheinbarere For-
schungsarbeit zu blicken, die unter Verzicht auf Zur-Schau-Stellung der wohlgehegten
eigenen Persönlichkeit zu der Überzeugung steht, daß Wissenschaft nur als Fest-
stellung von Tatsachen und auf keine andere Weise möglich sei.

Greifswald. Kurt Gassen.
 
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