Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

DOI Artikel:
Besprechungen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0489
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
476

BESPRECHUNGEN.

seiner Beziehung zur Gesellschaft, zu Sitte und Satzung, zu dem in Lebensformen
einfach Geltenden, zum Göttlichen theoretisch möglich und historisch tatsächlich
ist, und wie alle diese Möglichkeiten im Roman ihre Gestaltung gefunden haben.
Dabei ist das Buch sehr geschickt und in gepflegter Sprache abgefaßt.

Wie schon gesagt, leistet die Verfasserin solchen Überblick in Beschränkung
auf nur vier eingehend berücksichtigte Beispiele, deren zeitliche Abstände sie histo-
risch knapp überbrückt. So sehr eine derartige Darstellung nun durch Zusammen-
ziehung der Fülle des tatsächlich vorhandenen Stoffs auf nur wenige typische
Formen naturgemäß an Klarheit und Uberzeugungskraft der Linienführung gewinnt,
unbedenklich und sachlich voll gerechtfertigt ist sie doch nur dann, wenn ihre
Vereinfachung in Wahrheit aus der Kenntnis jener Fülle gewonnen ist. Vereinfachen,
typisch verkürzen kann man schon dem Wortsinne nach doch erst nach vorherigem
Haben und Beherrschen eines volleren Komplexes. Fehlt ein solches in größerem
Maße, so wird logischerweise die sachlich gerechtfertigte Vereinfachung zur sach-
fremden persönlichen Konstruktion des Forschers. Diese Gefahr scheint mir der
heutigen Literaturwissenschaft in starkem Maße zu drohen. Selten scheint mir das
Vertrauen berechtigt, Abrisse, sei es geschichtlicher, sei es theoretischer Art, seien
geschöpft aus Kenntnis eines derart umfangreichen Stoffkomplexes, daß man ihn
annäherungsweise als Vollkomplex bezeichnen könnte. Und häufiger wohl als gut
und berechtigt muß die Unmöglichkeit, -alles« zu kennen, die Tatsache beschönigen,
daß man in Wahrheit zu wenig kennt. Am meisten ins Gewicht aber fällt diese
Gefahr, wo Entwicklungen aufgezeigt werden sollen, kann doch hier aus Fehlen
nur allzu leicht Falschheit werden. Eine Entwicklungslinie, durch wenige Beispiele
belegt, kann leicht ganz anders aussehen als die stofflich entsprechende Entwick-
lungslinie mit Berücksichtigung cum grano salis -aller- ihrer Glieder, und m u ß es,
je mehr sich in jenen Beispielen in Wirklichkeit die Stoffkenntnis des Darstellers
erschöpft.

Findet das vorbehandelte Bedenken an M. Gerhards Buch auch nur geringen An-
halt, so doch ein anderes unmittelbareren. Innerhalb der »Wilhelm Meister-Analyse
schreibt die Verfasserin: »In solchem symbolischen Sinn allein ist auch die künstle-
rische Bedeutung der Turmgesellschaft zu begreifen. Wo man durch die Tätigkeit
der geheimen Gesellschaft die organische Entfaltung von Wilhelms Leben, den
natürlichen Verlauf des Romans gefährdet sah, da hat man diese Symbolik ver-
kannt. Der unwillkürliche und aus sich selbst in Wilhelm wirksame Trieb, der zur
harmonischen Bildung seiner Persönlichkeit drängt, noch ehe er sich davon Rechen-
schaft gibt, ist als solcher nicht darstellbar; mit seinem bewußten Willen ist er
nicht immer eins, vielmehr täuscht sich sein Wille bisweilen, wie in der Abirrung
zu Therese, über die geheimen Notwendigkeiten seiner Natur. Unentrinnbar waltet
dieser Trieb in ihm, sein Leben gestaltend, auch wo er selbst dessen Ziel verkennt,
eins mit seinem Schicksal selbst, das Gesetz, wonach er angetreten-. Vollstrecker
dieses Schicksals, dieses seines eigenen Gesetzes ist die Leitung der Turingesell-
schaft. Was sonst nur die zergliedernde Analyse, die zusammenfassende Rückschau
verdeutlichen könnte, ist im Schalten der Mitglieder des Turmes sichtbare Hand-
lung geworden; es gibt dem Lebenslauf Wilhelms den symbolischen Hintergrund,
der die Bedeutung dieses Weges als einheitlich organischen Prozesses, nicht als
beliebig willkürlicher Folge von Begebenheiten, erst sinnfällig vor Augen stellt-
(S. 147 f.). Hier ist meines Erachtens eine Methode nachträglicher Sinneindeutung
ad majorem gloriam am Werk, wie sie, oft genug geübt, in der Literaturwissen-
schaft, besonders auch der neuzeitlichen, sich geisteswissenschaftlich • gebärdenden,
von geradezu verhängnisvoller Wirkung ist. Nüchternem Urteil will die Tätigkeit
 
Annotationen