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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0534
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BESPRECHUNGEN.

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diese drei grundlegenden Schriften von höchstem wissenschaftlichen Rang als vor-
bildlich, ja geradezu als epochemachend bezeichnet zu werden.

Es entsprach längst gehegten Wünschen, der Persönlichkeit Julius Stockhausens
ein literarisches Denkmal zu setzen. Dieser dankbaren Aufgabe hat sich seine im
Bibliotheksfach geschulte Tochter Julia mit sorgfältiger Liebe unterzogen, von einem
geschmackvollen Verlag großzügig unterstützt. Die bisher unveröffentlichten Briefe
an seine Zeitgenossen, namentlich Brahms, Klara Schumann, Wilhelm Lübke, Klaus
Groth und viele andere, sowie die vom 6. Lebensjahr mit seinen Eltern, später mit
seiner Braut geführte Korrespondenz bilden die Hauptquellen, die durch verbinden-
den Text der Herausgeberin wertvolle Ergänzung fanden; außerdem fiel ihr die
Aufgabe zu, einen großen Teil der Korrespondenz zwischen Stockhausen und seinen
Eltern aus dem Französischen zu übersetzen. War doch unser 1826 in Paris ge-
borener Meistersänger im Elsaß, dem Heimatlande seiner künstlerisch hochbegabten
Mutter aufgewachsen, in französischer Schule gebildet und gestählt durch Lehrjahre
in Paris (Mitglied der Opera comique), London und Mannheim, erst Ende der
50er Jahre in die väterlicherseits überkommene deutsche Heimat übergesiedelt, um
hier, italienisch-französische Gesangskultur mit deutscher Auffassung verbindend,
bald zum gefeiertsten Apostel des deutschen Liedes zu werden. Ebenso unvergessen
aber auch bleibt der einzigartige Chorerzieher Stockhausen als Leiter der Hamburger
Singakademie und des Sternschen Gesangvereins in Berlin. Daß sich die gleich-
zeitige Entfaltung als Chordirigent, Sänger und Gesangspädagog — die letzten Jahr-
zehnte (1878—1906) wirkte Stockhausen nur noch lehrend in Frankfurt a. M. — als
unmöglich erweisen mußte, erscheint fast wie eine Tragik dieses an äußeren Er-
folgen überreichen Lebens.

Der noch heute verbreiteten Ansicht, wir Deutschen wären zu hervorragenden
gesanglichen Leistungen nicht befähigt, während der altitalienische bei canto die nie
wieder erreichte Blütezeit des Gesanges bilde, tritt fast gleichzeitig mit der Stock-
hausen-Biographie das Werk Haböcks entgegen, in dem diese Epoche als eine Ge-
sangskunst von Kastraten überraschende Erhellung findet. Haböck hat seine um-
fassenden Studien zu einer Zeit vorgenommen, da einerseits die letzten Vertreter
dieser Kastratenkunst noch wirkten, anderseits die Fortschritte der modernen Drüsen-
forschung auch die Erkenntnis der Zusammenhänge zwischen der innersekretorischen
Funktion der Keimdrüsen und der Stimmbetätigung ermöglichte. Obwohl auch kul-
turhistorisch höchst bedeutungsvoll, steht hier das Kastratenproblem nur in seiner
künstlerischen Auswirkung zur Diskussion.

Das Kastrieren von Knaben vor Eintritt der Pubertät bewirkte, daß der Kehl-
kopf im Wachstum zurückblieb, während sich Brust, Lunge und Atmungsorgane
weiterentwickelten. Mit ihrer Vergrößerung nahm die Fähigkeit, eine große Masse
Luft zu beherbergen, über alle Maßen zu. Weil aber durch die enge Stimmritze
nur ein kleiner Teil der Luft entweichen kann, verbrauchte der Kastrat ein Minimum
an Luft. Die ungewöhnliche Atemlänge ermöglichte einen Schwellton (messa di
voce), überhaupt eine virtuose Technik, wie sie von keiner Frauen- oder Männer-
stimme ausführbar ist. Die Stimmlage der Kastraten glich im allgemeinen der einer
Frauenstimme, der Klangcharakter unterschied sich aber deutlich von dem Timbre
einer Knaben- oder Frauenstimme; er entsprach einer Mittelstufe zwischen Knaben
und Mann. Trotz des künstlichen Eingriffs erzeugte die Kehle des Kastraten ihre
Töne auf dieselbe Weise wie alle anderen menschlichen Stimmen.

Infolge des Ausschlusses der Frauenstimmen vom Kirchengesang übernahm die
abendländische Kirche aus dem Orient die Verwendung von Kastratensängern.
Schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde das Kastrieren zum Zwecke
 
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