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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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Hoerner, Margarete: Der Manierismus als künstlerische Anschauungsform
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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0215
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BEMERKUNGEN.

dem völligen Ausreifen eines Stils möglich sind und daß es in der Tat vom Zufall
abhinge, auf welche Erscheinung wir zu einer bestimmten Stunde und in einer be-
stimmten Umgebung stoßen.

Nimmt man nun freilich Vergleiche wie Dürer und Grunewald, Raffael und
Andrea del Sarto als Beweismaterial, Venedig und Florenz, so wird sich dem gegen-
über schwer etwas erwidern lassen; niemals aber hat die Geschichte einen Rem-
brandt neben Raffael gesetzt und wenn sie Menzel und Genelli sich gerade noch
begegnen hieß, so wissen wir doch genau, daß der eine die Zukunft in sich trägt,
der andere die Vergangenheit verkörpert. Und warum? Nun, der Grund hierfür er-
gibt sich aus einer einfachen Beobachtung. Auch der objektivste Historiker wird es
stets neu schmerzlich empfinden, wenn er in einer Galerie aus einer Abteilung
italienischer Renaissancebildwerke ohne Vorbereitung in einen Rembrandtsaal hinüber-
tritt. Das bedeutet doch nur, daß es in der Anschauung wohl Gegensätze und Artr
Verschiedenheiten gibt, die nebeneinander bestehen können, ja, die sich gegenseitig
steigern, anderseits aber auch Widersprüche, die einander ausschließen, Antinomien,
d. h. polare Setzungen, von denen die eine sein, die andere zur gleichen Zeit nicht
sein kann').

Zu diesen Antinomien gehört der Stilunterschied klassisch und barock. Gegen-
wart beider, dichtes Aneinanderwohnen ist unerträglich. Wir haben schon die
morphologische Stil Vermischung des 19. Jahrhunderts als unerträglich empfinden
gelernt. Und doch hat es damals nie Widersprüche nebeneinander gegeben, wie sie
die zeitlichen Schwankungen ohne Schwierigkeiten erzeugen.

Man scheut sich vor der Anerkennung des Immanenzgesetzes, der zeitlichen
oder örtlichen Alleinherrschaft des einen Stils vielleicht nur deshalb, weil man es
ohne Metaphysik nicht einordnen zu können glaubt. Und doch ist kein geheimnis-
volles, geschichtliches Uhrwerk notwendig, um zu erklären, was wir alle in jener
schroffen, an sich unbegründeten Ablehnung des »vor uns« an uns selbst erleben
können. Es ist nicht nötig, den Dualismus aus der menschlichen Psyche, in der er
wurzelt, herauszuziehen und ihn im geschichllichen Geschehen zu objektivieren
Ich meine: es gibt keine geschichtlichen Gesetze außerhalb oder neben den kau-
salen Verknüpfungen. Es gibt sie nur insofern, als die Psyche selbst dem Geschehen
seine festen Grenzen setzt. Und so bleibt auch die Immanenzreihe eng mit dem
geschichtlichen Wandel, mit der geschichtlichen Kultuibildung verknüpft. Die Assi-
milationskraft des Geistes, die sich im Kulturzusaiiimenschluß am deutschsten offen-
bart, ist auch die wirkende Ursache der Stileinheit. Einer Macht, die wie die Sprache
über weiteste Zeiten und Strecken hin Menschen, die sich nie gesehen haben und
nichts voneinander wissen, zu einer Einheit verbindet, die dennoch einem steten
Wandel unterliegt, muß auch das viel geringere Wunder einer Vereinheitlichung
des künstlerischen Willens gelingen. Beharrungsvermögen und Veränderungsbedürf-
nis sind die Grundfedern des geschichtlichen Geschehens überhaupt und bedingen
Stetigkeit und Wandel jeglicher Kultur, zwei Elemente, ohne deren beiderseitiges
Wirken jeder lebendige Fortschritt zum mindesten fraglich bleibt2).

In dieser Hinsicht hebt sich das Immanenzgesetz in keiner Weise aus dem

!) Antinomien der Anschauung finden wir auch sonst im Bereich des Optischen.
Wie kommt es z. B., daß wir Konträrfarben wohl nebeneinander vertragen, daß
aber zwei verschiedene Nuancen derselben Farbe — so wie nebeneinander liegende
Töne — sich gegenseitig »beißen«? Die physikalische Erklärung hilft uns noch
nicht zur psychologischen.

2) A. Vierkandt, Die Stetigkeit im Kulturwandel. Leipzig 1908.
 
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