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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 32.1938

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Damian, Erwin: Rilkes Gestaltung der Landschaft, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14217#0172
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ERWIN DAMIAN

lebens in den Vordergrund. Die landschaftlichen Wirklichkeiten werden
nun nicht mehr aus der ungebrochenen Anschauung heraus gestaltet, son-
dern aus der Erinnerung in ihrer seelischen Umwandlung. Daraus ergeben
sich sowohl für die Wortwahl wie für die Formgebung ganz andere Vor-
aussetzungen. Das Gefühl ist nun nicht mehr an die Besonderheiten der
Gegenstände gebunden, unterliegt nicht mehr der Kausalität der Objekt-
welt, sondern vermag frei mit den Bildern der Erinnerung zu schalten.
Jetzt tritt das Schillernde, Prunkende und Charakteristische der einzelnen
Gegenstände und das Besondere, Vielgestaltige einer landschaftlichen Er-
scheinung zurück hinter dem Einfachen, Schlichten und Stillen, das sich
viel leichter in den Rhythmus eines Gefühls einfügen läßt. Besondere Vor-
liebe für die Stimmungen des Abends und der Nacht kennzeichnen diese
romantische Stufe. An die Stelle der lauten Geräusche treten die blumen-
haft zarten Empfindungen des Träumenden. Aber das freie Verfügen
über die Wirklichkeit ist nur aus einer langen inneren Reifezeit zu ver-
stehen und setzt jene vorhergehende passive Zeit der Aufnahme voraus.
Rilke hat selbst die Sammlung „Mir zur Feier" den „äußersten Ausgang
einer Entwicklungszeit" genannt, die scharf getrennt ist vom Anfang einer
nächsten Epoche, „derjenigen, die durch das ,Buch der Bilder' bezeichnet
ist" (Br. a. s. Verl., S. 56/57). Ist die erste Periode der Rilkeschen Land-
schaftsschilderung bestimmt durch den Gegensatz zwischen dem vor-
stellenden Ich und dem gegenstandserfüllten Naturraum, so bietet sich
uns als Kennzeichen dieser zweiten Verknüpfung des Geschauten im seeli-
schen Raum. Es kann sich noch keineswegs um eine Synthese der gesamten
Natur oder gar des gesamten Daseins handeln, Dichten ist hier immer
noch Aneignung, „Werbung", Sammlung, „Auswahl" — und der Umkreis
der Bilder richtet sich ganz nach der Geräumigkeit des Gefühls, dem sie
sich unterordnen. Die Seele wirft sich in ein vorhandenes Außen oder das
Außen spiegelt sich im Innern der Seele. Die Landschaft wird zum Raum
des Wunderbaren, wo jedes Ding eine tiefere Bedeutung und jedes Ge-
schehen einen tieferen Sinn hat. Die Augen des Dichters, die aus dem
Raum schauen, „der nicht Wasser und Himmel ist" (Br. u. T. 99), sehen
hinter die Erscheinung ins Herz der Dinge, wo die trennenden Wände
zwischen den Wesen immer dünner werden. Es ist nicht mehr das
stauende Gegenübersein der ersten Stufe und noch nicht der verbissene
plastische Wille der späteren, sondern ein stilles, mitwissendes Beteiligt-
sein an allem. Die Natur als Erzieherin des Menschen, dieses hohe Ver-
mächtnis Hölderlins und Stifters, ist hier zum erstenmal bei Rilke zu
erkennen. Von nun an setzt die Entwicklung ein, die in der jubelnden
Bereitschaft zur Erde, in der neunten Elegie ihren Höhepunkt findet. So
sinkt alles Sichtbare zurück ins Gefühl, von wo es als Stimmung, Gleichnis
oder Symbol wieder aufsteigt. Innen und außen, Seele und Landschaft
 
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