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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 4.1906

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Stengel, Walter: Johann Paesters Theatik
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JOHANN PAESTERS THEATIK

VON

WALTER STENGEL

**- - /

lle Menschen glauben
richtig zu sehen das
es er-

zu
Sehbare: allein
fordert Sebübung, es
erfordert allmähliches
Erspähen der Verhält-
nisse, unter denen die
Dinge so oder anders
erscheinen, um vom
dunkeln, anfänglichen
Seheindruckezum klaren
Sehbegrijfe zu gelangen; es erfordert Kunst, und zwar
grosse Kunst, mit zweifelsfreier Richtigkeit zu sehen
das Sehsinnliche, Natur zu sehen wie sie ist.

„Der nachübende Sehesinn sah lange nur Formen
und Farben, bis er Formen- und Farbenverhältnisse
ersah; denn ein SehbegrifF folgt auf den andern
und vorbereitet den andern.

„Das sinnliche Sehen kann als ein Gleichnis be-
trachtet werden des logischen Sehens und geistigen
Erkennens, welches dem Vernunftsinne eigen ist.
Das tief Gedachte und richtig Ergründete wird eben
darum, weil es zu sehen dargiebt, was gleichgeschärfte
Sehkraft erfordert, so selten gesehen und verstanden,
so wie das beste Gemälde nur selten geschätzt und
begriffen wird. Die Gegenstände des sinnlichen
Sehens sind, obwohl vom allgemeinen Tage er-
leuchtet, nicht weniger mit Finsternissen umhüllt,
als diejenigen des logischen Sehens. Auch in der
Kunst ist leises Dämmern schon des Aufmerkens
und Nachübens mühsames Erzeugnis. Anfänglich
unbestimmter Eindruck ist's in ihrem Werden, wie

im Werden des Wissens. LichtbegrifFist alles Schöne
wie alles Wahre. Ist Denken der Wissenschaft Sehen,
so ist ebenso gewiss Sehen der Kunst auch Denken.

„Ein Maler, dem Kolorit und Zeichnung, dem
Ausdruck und Anordnung nicht einziger Gedanke
ist und vollauf zu denken gibt; den Tintensinn und
Formensinn nicht entzündet, Licht und Gegenlicht
im Gefolge der Beschattung nicht begeistert; den
Sehsinnlichkeit des allen nicht zum Schwärmer
macht: der ist verödet, verarmt der Malerei. Wer
am Bezeichnenden und Sinngebenden der Art das
nicht mehr vorstellt, als was es ist, nicht mit ganzer
Seele hängt, nicht Geist sieht in allem der Natur
und voll wird ihres Geistes; wer sich überreden
könnte, die Nachahmungs- und Darstellungskunst
des Sehsinnlichen allen sei mechanisch, der treibe
ja nicht solche Kunst, und wähle sich eine höhere
Sphäre.

„Wir haben an Natur nicht Symbol noch
Hieroglyph, sondern sie selbst, ihrer Kinder allver-
traute, allgefällige Mutter; geniessen so ihrer und
freuen uns so ihrer; warum sollte uns nicht auch
im Bilde der Kunst so ihrer genügen?

„Wandelt mit Anerkennen in ihre Schule,
Zöglinge des Meisseis und des Pinsels; überzeugt
euch, alles und jedes Stück Arbeit, das eurem
Sehesinne begegnet, vom Heckengewebe und der
Distel am Wege, selbst von der Erdscholle des
Weges von euren Füssen an, wie es der bildenden
Hand der Natur sich entformend jedes in eigenem
Wesen auf der grossen Lichtbühne erscheint und ist,
sei Meisterwerk. Fürwahr, die Phantasie ermüdet

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