1909
ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU
Heft 8
Die Beispiele ließen sich leicht vermehren. Es stehen ihnen viel
mehr gegenüber, welche im Stil ihrer eigenen Zeit gehalten sind, gleich-
wohl beweisen sie unwiderleglich, daß das Gefühl für die stilistische Ein-
heit eines Bauwerkes schon in früheren Zeiten vorhanden war. Und warum
sollte es auch nicht vorhanden gewesen sein, es ist doch natürlich, ein
Kunstwerk als eine homogene Einheit zu betrachten. An Werken der
Plastik und Malerei, an welchen Ergänzungen vorgenommen werden —
und sie müssen da vorgenommen werden, wo ein Werk nicht wissenschaft-
liches Studienob]ekt geworden ist, sondern künstlerischen Zwecken zu
dienen hat -, hält man es für selbstverständlich, daß sie sich dem Stil
des Werkes genau anzupassen haben, man sollte ein gleiches Verfahren
bei Bauwerken wenigstens nicht prinzipiell abweisen. Das Verhältnis ist
in der Architektur allerdings etwas anders; wenige Bauten sind so streng
organisiert, daß sie nicht Anbauten vertrügen, und es ist gar nicht in Ab-
rede zu stellen, daß solche, trotz stilistischer Differenzen, oft mit großem
Geschick ausgeführt worden sind. Aber das ist niemals Architektur im
höchsten Sinne, sondern die Wirkung beruht auf dem malerischen Prinzip
des Kontrastes.
Und damit kommen wir auf eine der Ursachen, welche in unsern
Tagen zu der Forderung geführt haben, Anbauten und Ausbauten sollen
im Stil der Zeit ausgeführt werden. Eine malerisch fühlende Zeit, wie
unsere, freut sich des Reizes der Gegensätze, eine streng architektonisch
fühlende wird an ihm nur mäßige Befriedigung finden und die stilistische
Einheit höher stellen.
Was nun die Stilfrage für An- und Ausbauten betrifft, so muß ich
leider bekennen, daß ich sie für eine sehr untergeordnete halte. Mir
kommt es nicht darauf an, in welchem Stil gebaut wird, sondern darauf,
daß schön gebaut wird. Schön bauen kann man aber in jedem Stil. Man
kann auch in jedem Stil schlecht bauen, und die Meinung, ein Bau sei
schon schön, wenn er modern ist, ist ebenso verkehrt wie die, jede alte
Hütte müsse erhalten und jeder alte Hosenträger müsse in ein Museum
gesteckt werden.
Es wird mir nun entgegengehalten werden: schön bauen kann man
in jedem Stil, doch nur in der Zeit, in welcher er entsteht, nicht aber in
späterer Repristination. Auch dieser Behauptung kann ich nur bedingte
Geltung zuerkennen. Kein Einsichtiger wird die Architektur des 19. Jahr-
hunderts der des 12. oder 13. gleichstellen, aber sie hat doch Bedeutendes
geleistet und die Wurzeln der modernen Architektur reichen viel weiter
in das 19. Jahrhundert hinein als man glaubt. Die Künstler, welche den
modernen Stil geschaffen haben, haben mit Ernst und großer künstlerischer
Kraft gearbeitet. Man wird ihrem Wirken seine Hochachtung nicht ver-
sagen, man wird ihnen sogar zu gute halten, wenn sie auf ihre Vorgänger
mit Geringschätzung herabblicken. Aber das Recht, das ich dem schaffen-
den Künstler, der einseitig ist und einseitig sein muß, einräume, bestreite
ich dem Kritiker, dessen Aufgabe es ist, ohne Voreingenommenheit jeder
künstlerischen Leistung gerecht zu werden. Die Herren haben ein kurzes
Gedächtnis. Sie haben bereits vergessen, daß sie mit derselben Über-
zeugung, mit der sie heute die Moderne preisen, vor zwanzig und dreißig
Jahren die deutsche Renaissance als die wahre nationale Kunst begrüßt
haben. Was wir damals hörten, waren Phrasen und was wir heute hören,
sind Phrasen. Und eine ganz verlogene Phrase ist die von der künstlerischen
Impotenz des 19. Jahrhunderts und die, die Künstler des 19. Jahrhunderts
hätten nicht aus ihrem eigenen, sondern aus dem Gefühl früherer Zeiten
heraus geschaffen, oder nicht geschaffen, sondern kombiniert. Ich habe keine
klare Vorstellung davon, wie jemand ein andres Gefühl haben kann als sein
eigenes. Wer das Wesen der Baukunst nur in den Detailformen sucht, der ver-
Erker in Miltenberg. Aufnahme von Architekt Alfred
J. Balcke in Berlin.
Haus in Miltenberg. Aufnahme von Architekt Alfred
I. Balcke in Berlin.
steht nichts von Architektur, wer sie aber auf ihre kompositorischen Leistungen
ansieht, wird auch im 19. Jahrhundert eine große Zahl hochbedeutender
Werke finden. Und wer sich die Mühe nimmt, die enorme künstlerische
Arbeit zu studieren, welche auf die großen Konkurrenzen der letzten fünfzig
Jahre verwandt worden ist, der wird innne, daß über alle Verschiedenheit
des Details hinweg eine konsequente Entwicklung stattgefunden hat. Die
Kunst des 19. Jahrhunderts hat da und dort, namentlich im Kirchenbau
archaisiert, im ganzen war ihr Verhältnis zur Kunst früherer Epochen
wenig anders als das der Renaissance zur Antike. In meiner Jugend gab
es noch sehr gebildete Leute, welche behaupteten, die Renaissance sei kein
Stil, und die Kunst des Rokoko wurde ganz allgemein als Verirrung und
Unsinn bezeichnet, ganz wie heute die des 19. Jahrhunderts. Die Zeiten
der Verkennung jener sind endgültig vorbei, auch für die Kunst des 19. Jahr-
hunderts wird der Tag kommen, da der Nebel des Vorurteils weicht und
man klar sehen wird, daß und was sie Bleibendes geschaffen hat.
Kommen wir auf die Restaurationen zurück. Die abstrakte Forderung,
ein Gebäude müsse in seinen ursprünglichen Zustand versetzt werden, ist
eine mißverstandene Folgerung aus der romantischen Begeisterung für das
Mittelalter. Was hier verwüstet worden ist, ist mir besser bekannt als
Vielen, denn ich habe mehr Kirchen analytisch untersucht, als die meisten
Menschen. Es darf aber nicht verkannt werden, daß sehr viele Kirchen
in so trostlosem Zustande in das 19. Jahrhundert gekommen sind, daß
Restaurationen nicht zu vermeiden waren, und neben vielen rücksichtslosen
und verfehlten stehen auch nicht wenige, welche in künstlerisch und archäo-
logisch tadelloser Weise durchgeführt sind. Nur Vorurteil wird das ver-
kennen. Die historisch künstlerische Arbeit war nicht vergebens. Ob der
Kirchturm in Kulmbach ausgebaut wird oder nicht, ob er in modernen oder
in gotischen Formen gebaut wird, ist, ich wiederhole es, eine Frage, über
welche sich weitere Kreise nicht zu beunruhigen brauchen. Das aber darf
ausgesprochen werden: ein besseres Verhältnis zwischen Turm und Kirche
ist für einen Architekten, der Gefühl für Proportionen hat, nicht schwer
zu erreichen, und ferner: Es gibt Künstler, welche die historischen Formen
so weit beherrschen, daß sie mit ihnen sicher künstlerisch schalten können.
Fällt einem solchen die bescheidene Aufgabe zu, den Kulmbacher Turm
auszubauen, so darf man getrost erwarten, daß er sie künstlerisch lösen wird.
Meine Ausführungen richten sich gegen Extravaganzen der Denkmal-
pflege. Im Interesse ihrer gedeihlichen Entwicklung möchte ich wünschen,
daß unbedeutende Fragen, wie die des Turmbaues in Kulmbach nicht zu
häufig in so agitatorischer Weise aufgebauscht werden. Bezold.
Bücherbesprechungen.
Alt-Prager Architektur-Details. Attika-Aufbauten, Dachluken, Dächer,
Giebel, Balkone u. s. w. Gesammelt und herausgegeben von Architekt
Dr.Techn. Friedrich Kick, Professor an der Deutschen Techn. Hochschule
in Prag. 2. Serie, 40 Tafeln in Lichtdruck. Wien, Verlag von Anton
Schroll & Co. Preis 25 Mk.
Mit Freuden begrüßen wir die Fortsetzung dieser durch den künst-
lerischen Wert und die sorgfältige Auswahl des Inhalts ausgezeichneten
Sammlung, die — gleich reich an stimmungsvollen Bildern wie an vorbild-
lichen Einzelheiten — ein wertvolles Denkmal der einstigen, leider vielfach
ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU
Heft 8
Die Beispiele ließen sich leicht vermehren. Es stehen ihnen viel
mehr gegenüber, welche im Stil ihrer eigenen Zeit gehalten sind, gleich-
wohl beweisen sie unwiderleglich, daß das Gefühl für die stilistische Ein-
heit eines Bauwerkes schon in früheren Zeiten vorhanden war. Und warum
sollte es auch nicht vorhanden gewesen sein, es ist doch natürlich, ein
Kunstwerk als eine homogene Einheit zu betrachten. An Werken der
Plastik und Malerei, an welchen Ergänzungen vorgenommen werden —
und sie müssen da vorgenommen werden, wo ein Werk nicht wissenschaft-
liches Studienob]ekt geworden ist, sondern künstlerischen Zwecken zu
dienen hat -, hält man es für selbstverständlich, daß sie sich dem Stil
des Werkes genau anzupassen haben, man sollte ein gleiches Verfahren
bei Bauwerken wenigstens nicht prinzipiell abweisen. Das Verhältnis ist
in der Architektur allerdings etwas anders; wenige Bauten sind so streng
organisiert, daß sie nicht Anbauten vertrügen, und es ist gar nicht in Ab-
rede zu stellen, daß solche, trotz stilistischer Differenzen, oft mit großem
Geschick ausgeführt worden sind. Aber das ist niemals Architektur im
höchsten Sinne, sondern die Wirkung beruht auf dem malerischen Prinzip
des Kontrastes.
Und damit kommen wir auf eine der Ursachen, welche in unsern
Tagen zu der Forderung geführt haben, Anbauten und Ausbauten sollen
im Stil der Zeit ausgeführt werden. Eine malerisch fühlende Zeit, wie
unsere, freut sich des Reizes der Gegensätze, eine streng architektonisch
fühlende wird an ihm nur mäßige Befriedigung finden und die stilistische
Einheit höher stellen.
Was nun die Stilfrage für An- und Ausbauten betrifft, so muß ich
leider bekennen, daß ich sie für eine sehr untergeordnete halte. Mir
kommt es nicht darauf an, in welchem Stil gebaut wird, sondern darauf,
daß schön gebaut wird. Schön bauen kann man aber in jedem Stil. Man
kann auch in jedem Stil schlecht bauen, und die Meinung, ein Bau sei
schon schön, wenn er modern ist, ist ebenso verkehrt wie die, jede alte
Hütte müsse erhalten und jeder alte Hosenträger müsse in ein Museum
gesteckt werden.
Es wird mir nun entgegengehalten werden: schön bauen kann man
in jedem Stil, doch nur in der Zeit, in welcher er entsteht, nicht aber in
späterer Repristination. Auch dieser Behauptung kann ich nur bedingte
Geltung zuerkennen. Kein Einsichtiger wird die Architektur des 19. Jahr-
hunderts der des 12. oder 13. gleichstellen, aber sie hat doch Bedeutendes
geleistet und die Wurzeln der modernen Architektur reichen viel weiter
in das 19. Jahrhundert hinein als man glaubt. Die Künstler, welche den
modernen Stil geschaffen haben, haben mit Ernst und großer künstlerischer
Kraft gearbeitet. Man wird ihrem Wirken seine Hochachtung nicht ver-
sagen, man wird ihnen sogar zu gute halten, wenn sie auf ihre Vorgänger
mit Geringschätzung herabblicken. Aber das Recht, das ich dem schaffen-
den Künstler, der einseitig ist und einseitig sein muß, einräume, bestreite
ich dem Kritiker, dessen Aufgabe es ist, ohne Voreingenommenheit jeder
künstlerischen Leistung gerecht zu werden. Die Herren haben ein kurzes
Gedächtnis. Sie haben bereits vergessen, daß sie mit derselben Über-
zeugung, mit der sie heute die Moderne preisen, vor zwanzig und dreißig
Jahren die deutsche Renaissance als die wahre nationale Kunst begrüßt
haben. Was wir damals hörten, waren Phrasen und was wir heute hören,
sind Phrasen. Und eine ganz verlogene Phrase ist die von der künstlerischen
Impotenz des 19. Jahrhunderts und die, die Künstler des 19. Jahrhunderts
hätten nicht aus ihrem eigenen, sondern aus dem Gefühl früherer Zeiten
heraus geschaffen, oder nicht geschaffen, sondern kombiniert. Ich habe keine
klare Vorstellung davon, wie jemand ein andres Gefühl haben kann als sein
eigenes. Wer das Wesen der Baukunst nur in den Detailformen sucht, der ver-
Erker in Miltenberg. Aufnahme von Architekt Alfred
J. Balcke in Berlin.
Haus in Miltenberg. Aufnahme von Architekt Alfred
I. Balcke in Berlin.
steht nichts von Architektur, wer sie aber auf ihre kompositorischen Leistungen
ansieht, wird auch im 19. Jahrhundert eine große Zahl hochbedeutender
Werke finden. Und wer sich die Mühe nimmt, die enorme künstlerische
Arbeit zu studieren, welche auf die großen Konkurrenzen der letzten fünfzig
Jahre verwandt worden ist, der wird innne, daß über alle Verschiedenheit
des Details hinweg eine konsequente Entwicklung stattgefunden hat. Die
Kunst des 19. Jahrhunderts hat da und dort, namentlich im Kirchenbau
archaisiert, im ganzen war ihr Verhältnis zur Kunst früherer Epochen
wenig anders als das der Renaissance zur Antike. In meiner Jugend gab
es noch sehr gebildete Leute, welche behaupteten, die Renaissance sei kein
Stil, und die Kunst des Rokoko wurde ganz allgemein als Verirrung und
Unsinn bezeichnet, ganz wie heute die des 19. Jahrhunderts. Die Zeiten
der Verkennung jener sind endgültig vorbei, auch für die Kunst des 19. Jahr-
hunderts wird der Tag kommen, da der Nebel des Vorurteils weicht und
man klar sehen wird, daß und was sie Bleibendes geschaffen hat.
Kommen wir auf die Restaurationen zurück. Die abstrakte Forderung,
ein Gebäude müsse in seinen ursprünglichen Zustand versetzt werden, ist
eine mißverstandene Folgerung aus der romantischen Begeisterung für das
Mittelalter. Was hier verwüstet worden ist, ist mir besser bekannt als
Vielen, denn ich habe mehr Kirchen analytisch untersucht, als die meisten
Menschen. Es darf aber nicht verkannt werden, daß sehr viele Kirchen
in so trostlosem Zustande in das 19. Jahrhundert gekommen sind, daß
Restaurationen nicht zu vermeiden waren, und neben vielen rücksichtslosen
und verfehlten stehen auch nicht wenige, welche in künstlerisch und archäo-
logisch tadelloser Weise durchgeführt sind. Nur Vorurteil wird das ver-
kennen. Die historisch künstlerische Arbeit war nicht vergebens. Ob der
Kirchturm in Kulmbach ausgebaut wird oder nicht, ob er in modernen oder
in gotischen Formen gebaut wird, ist, ich wiederhole es, eine Frage, über
welche sich weitere Kreise nicht zu beunruhigen brauchen. Das aber darf
ausgesprochen werden: ein besseres Verhältnis zwischen Turm und Kirche
ist für einen Architekten, der Gefühl für Proportionen hat, nicht schwer
zu erreichen, und ferner: Es gibt Künstler, welche die historischen Formen
so weit beherrschen, daß sie mit ihnen sicher künstlerisch schalten können.
Fällt einem solchen die bescheidene Aufgabe zu, den Kulmbacher Turm
auszubauen, so darf man getrost erwarten, daß er sie künstlerisch lösen wird.
Meine Ausführungen richten sich gegen Extravaganzen der Denkmal-
pflege. Im Interesse ihrer gedeihlichen Entwicklung möchte ich wünschen,
daß unbedeutende Fragen, wie die des Turmbaues in Kulmbach nicht zu
häufig in so agitatorischer Weise aufgebauscht werden. Bezold.
Bücherbesprechungen.
Alt-Prager Architektur-Details. Attika-Aufbauten, Dachluken, Dächer,
Giebel, Balkone u. s. w. Gesammelt und herausgegeben von Architekt
Dr.Techn. Friedrich Kick, Professor an der Deutschen Techn. Hochschule
in Prag. 2. Serie, 40 Tafeln in Lichtdruck. Wien, Verlag von Anton
Schroll & Co. Preis 25 Mk.
Mit Freuden begrüßen wir die Fortsetzung dieser durch den künst-
lerischen Wert und die sorgfältige Auswahl des Inhalts ausgezeichneten
Sammlung, die — gleich reich an stimmungsvollen Bildern wie an vorbild-
lichen Einzelheiten — ein wertvolles Denkmal der einstigen, leider vielfach