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Zur Einführung

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Die erstaunliche Sammlung von Objek-
ten, die um die verschiedenen Schreine
im Artemision gefunden wurden, werden
deshalb am besten als eine zusammenge-
hörige Gruppe verstanden, eine einzigar-
tige antike Brücke zwischen der Göttin
Artemis und ältesten Glaubensvorstellun-
gen der Menschheit. Dies ist das Wunder
hier in Ephesos, die wirkliche Macht der
Artemis: daß sie so viele Dinge ftir so
viele Menschen war. Obwohl die Identi-
tät vieler dieser Dinge schwer zu bestim-
men sein mag und viele von ihnen aus
Kulturen kommen, die heute kaum mehr
bekannt sind, Artemis ist ihr Bezugs-
punkt. Sie sprechen mit einer Stimme. So
etwa formulieren dies John und Elizabeth
Romer in ihrem neuen Buch über die Sie-
ben Weltwunder.

Das Artemision gehörte sicher auch zu
den größten Bauwerken griechischer
Zeit. Der Tempel des 4. Jhs. v. Chr.,
welcher der größte Bau an diesem Ort
war, hatte eine Breite von fast 72 m und
eine Länge von 125 m am Fuße. Der
Tempel des 6. Jhs. v. Chr. besaß immer-
hin bereits eine Breite von 60 m und eine
Länge von 103 m. Der Weltwunderbau
des 4. Jhs. v. Chr. war insgesamt von der
Unterkante des Stufenbaues bis zum First
32 m hoch, die Säulen ragten samt Ge-
bälk 22 m auf.

Die antiken Weltwunder werden häu-
fig auch mit besonderen technischen Lei-
stungen in Verbindung gebracht. Dies
trifft aber für das Artemision nur teil-
weise zu. Zwar wurden manche Neue-
rungen eingeführt, wie die Fundamentie-
rung und der Steintransport, aber auffäl-
lig bleibt, daß Werke von größerer
technischer Brillanz, wie z. B. der Tunnel
des Eupalinos auf Samos, keinen Ein-
gang in die Weltwunderlisten fanden. Dies

Abb. 1 Der Artemistempel ist mit Kuppel-
gewölben dargestellt, einem Kirchenbau
ähnlich. Der museale Charakter dieser Re-
konstruktion wird durch auf Postamenten
stehende Statuen (links Herakles, sich auf
eine Keule stützend, rechts im Vordergrund
eine Venus mit Eros) sowie die auf Emporen
plazierten bogenschießenden und musizie-
renden Eroten unterstrichen. Das Innere des
Tempels wird aber auch als Treffpunkt zum
Austausch von Neuigkeiten verstanden.
Kolorierter Kupferstich von Georg Baltasar
Probst in Augsburg, sog. Guckkastenbild:
Der Göttin Dianae Tempel zu Ephesos, das
fünfte Wunderwerk der Welt. 1. Hälfte 18.
Jh., Sammlung Kräftner, Wien.

hat auch mit der antiken Einstellung zur
Technik an sich zu tun, die als Konkur-
renz zur manuellen Arbeit gesehen
wurde. Und da auch Ingenieure, wie
Philon von Byzanz, der eine Weltwun-
derliste aufstellte, rein theoretisch orien-
tiert waren, war ihnen an Werken, die
eine praktische technische Verbesserung
erbrachten, wenig gelegen.

Das Artemision von Ephesos ist für die
meisten Besucher ein <unsichtbares> Monu-
ment. Die Architektur der Marmortem-
pel bleibt großteils unsichtbar, weil sie
im Zuge der Zerstörung zuerst in der
Johannesbasilika und später dann in der
Isa Bey Moschee sowie in dem byzan-
tinischen Aquaedukt, der den modernen
Ort Selquk durchquert, verbaut wurde.
Einige wichtige Perioden, von der myke-
nischen Zeitbis in das 6. Jh. v. Chr., blei-
ben dem Besucher gänzlich verschlossen.
Dennoch ist das Artemision auf eine be-
stimmte Weise ein optisch sehr differen-
ziertes Denkmal. Es werden Dinge sicht-
bar - etwa der «Wood-Schutt» -, die es
wie Denkmäler an anderen Orten als
etwas Unverwechselbares charakterisie-
ren. So wie der Besucher von Knos-
sos aus dem von Evans rekonstruierten
Ruinen sofort ablesen kann, daß es sich
nicht um eine klassische Stätte handelt,
sondern um eine prähistorische, so ist das
Artemision durch seine «amphibische»
Lage, teils im Wasser, teils auf dem
Lande, durch die einzige wiederaufge-
stellte Säule, durch die im Hintergrund
sichtbare Isa Bey Moschee und durch die
Johannesbasilika gekennzeichnet.

Wie vielleicht nur noch in Jerusalem
sind hier drei Heiligtümer der Weltreli-
gionen sichtbar: das pagane Artemision,
die frühchristliche Johannesbasilika und
die muslimische Isa Bey Moschee.

Ephesos als Ganzes bindet wie kaum
eine andere große Grabungsstätte die
Natur in die Ruinen ein, besonders deut-
lich ist dies im Artemisheiligtum faßbar,
von hier aus wird die gesamte Geologie
des Ortes und seiner Umgebung sichtbar.

Auch nach den Arbeiten der letzten
30 Jahre ist das Artemision nicht voll-
ständig ausgegraben. Immerhin konnten
der Bereich westlich des Tempels, die
West- und Nordseite des Tempels sowie
der Tempelhof erforscht werden. In den
vorliegenden Texten werden zuerst die
Geographie, die Mythologie und die frü-
hen Bauperioden, dann die Marmortem-
pel und zuletzt die Kleinfunde vorge-
stellt.

Das Artemision war in gewisser Weise
immer ein Kontrastprojekt zur übrigen
Erforschung von Ephesos, nicht nur
durch seine Lage außerhalb des Areals

der hellenistisch-römischen Stadt, son-
dern auch durch das, was erforscht wird:
ein griechisches und vorgriechisches
Heiligtum. Auch die dann im 6. und
4. Jh. v. Chr. gebaute große Marmor-
architektur ist älter als das meiste, was
man im übrigen Ephesos heute sieht. Ein
Kontrast entstand auch durch die heutige
Unscheinbarkeit der Monumente gegen-
über der gut erhaltenen Marmorarchitek-
tur des römischen Ephesos.

Philon von Byzanz wollte seine Welt-
wunder so beschreiben, daß man darauf
verzichten konnte, in ferne Länder zu rei-
sen, um diese zu sehen. Wir möchten
dagegen den Leser durch unsere Darstel-
lung dazu animieren, nach Ephesos zu
fahren und das Artemision zu besichti-
gen, auch dann, wenn der Besucher nicht
alles, worüber wir schreiben, unmittel-
bar zu sehen bekommt.

Ephesos ist nicht nur aufgrund seiner
langjährigen Geschichte eine der meist-
besuchten Ruinenstätten des Mittelmeer-
raumes, sondern auch durch seine heute
ausgegrabenen und zum Teil rekon-
struierten Gebäude und die zauberhafte,
sie umgebende Landschaft. Der Besu-
cher trifft hier nicht auf eine Stätte,
wo gewissermaßen die Zeit stillsteht, wie
etwa in Olympia, sondern wo sich beim
Durchwandern ständig neue Aspekte der
Gestaltung des Altertums ergeben.

Ephesos ist eine ganze Werkstatt an
Ideen zu modernen Wiederaufstellungen.
Durch die Initiative und Zusammenarbeit
von Wissenschaftlern und Ingenieuren
erstanden in den vergangenen Jahrzehn-
ten einzelne Bauwerke, wie etwa die
großartige Bibliothek des Celsus, als Re-
konstruktionen zu neuem Leben. Obwohl
die einzelnen Beispiele verschiedene Reak-
tionen auslösen mögen, von Zustimmung
bis Ablehnung, als Ganzes macht das
Ruinengelände mit den z. T. rekonstruier-
ten Baudenkmälern einen dynamischen
Eindruck, wo keine Langeweile auf-
kommt. Ephesos ist, so wie es sich heute
dem Besucher darstellt, ein Gesamt-
kunstwerk. Dazu tragen auch die vielen
Besucher aus aller Welt bei, die täglich
die antiken Straßen durchwandern. Sie
vermitteln zusammen mit den Gebäuden
den Eindruck einer lebendigen antiken
Stadt. Dabei wird allerdings den wenig-
sten Touristen bewußt, daß sie nicht mehr
durch eine antike Stadtanlage flanieren,
sondern eine moderne, ausgegraben von
Archäologen und sichtbar gemacht von
Architekten. Aber die Antike hat in
Ephesos immer noch eine derartige
Kraft, daß sie alles Neue in sich auf-
nimmt, verarbeitet und als Ganzes wie-
der ausstrahlt.
 
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