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Die Söhne des Daidalos

Kulturtransfer aus Kreta in das Artemision

«Zuerst wurde der Tempel der Diana in
Ephesos im ionischen Stil von Chersi-
phron aus Knossos und dessen Sohn
Metagenes begonnen, den später Deme-
trios, ein Tempelsklave der Diana selbst,
und Paionios aus Ephesus vollendet haben
sollen.»

Vitruv VII praef. 161; Übersetzung K. Fen-
sterbusch

«Femer rühmt man Chersiphron aus
Knossos, der den berühmten Tempel der
Diana zu Ephesos erbaute ...»

Plinius, n. h. VII125; Übersetzung R. König
und J. Hopp

Verglichen mit der fast selbstverständ-
lichen Beziehung Westkleinasiens zum
Orient ist jene zu Kreta weniger vorder-
gründig. Dennoch existieren literarische
Quellen, die auf die Beziehungen West-
kleinasiens zu Kreta verweisen. So be-
richtet Herodot (1171) über die Herkunft
der Karer, die später auch einen Teil der
Bewohner von Ephesos bildeten, daß sie
nach kretischen Berichten Untertanen des
Köngs Minos von Kreta waren und ur-
sprünglich auf den Inseln gelebt hatten,
bis sie dann nach Kleinasien eingewan-
dert seien. Auch die Kureten, die ephesi-
sche Einrichtung eines Kultkollegiums,
haben mit Kreta zu tun. Sie waren ur-
sprünglich kretische Vegetationsdämo-
nen, die um das Zeuskind einen lärmen-
den Waffentanz aufführten, um es vor
Kronos zu schützen, und besitzen Ähn-
lichkeiten mit den Begleitern der Kybele.
Auch Leto, die der Sage nach in Ortygia
bei Ephesos Artemis und Apollon gebo-
ren hat, weist Bezüge zu Kreta auf; unter
anderem wird sie in Phästos verehrt.

Abb. 111 Eines der beiden Elfenbeinge-
sichter, die wahrscheinlich von einem größe-
ren Fries stammen. Die Riickseite ist flach
gearbeitet und durch grobe Ritzung fiür eine
Befestigung vorbereitet. Dieses Relief besitzt
einen <Doppelgänger> aus Eleuthema auf
Kreta.

Abb. 112 Kopfaryballos aus Elfenbein,
Nachbildung eines Parfümgefäßes, oben
durchbohrt und damit als Anhänger getra-
gen. Der Gefäßkörper ist mit geometrischen
Mustem dekoriert.

Um 600 v. Chr. tritt ein jähes Ende des
wirtschaftlichen und kulturellen Lebens
auf Kreta ein. Stadtzentren werden ver-
lassen, Friedhöfe aufgegeben, und in den
Heiligtümern werden die Weihungen auf
eine Handvoll Objekte reduziert. Die
Ursachen dieses abrupten Niederganges
sind vielleicht im Zusammenbruch des
ökonomischen Netzwerkes mit dem
Orient zu suchen, als nach dem Unter-
gang des assyrischen Reiches und der Be-
lagerung der phönikischen Stadt Tyrus
ein Vakuum entstand. Die Künstler wan-
dern ab. So gehen berühmte kretische
Künstler wie Dipoines und Skyllis in die
Peloponnes. Pausanias (II 15,1) nennt sie
die «Söhne» oder «Schüler des Daida-
los». Auch Gesetzgeber wie Epimenides
gehen nach Athen, kretische Priester
gehen nach Delphi.

Im Zuge dieser Auswanderungs-
periode mögen auch Chersiphron und
Metagenes die Insel verlassen haben. Die
Architektur Ioniens verdankt Kreta viel.
So kommt der durchlaufende figurale
Fries im Gebälk erstmals in Prinias auf
Kreta vor, ebenso die Voluten als Dach-
akrotere. Eine Beziehung zu Kreta wird
für die archaische Zeit durch eines von
zwei Elfenbeinreliefs hergestellt, die mit
frontal blickenden Gesichtern dekoriert
waren (Abb. 111). Sie stammen von der
nördlichen Kultbasis. Vor einigen Jahren
wurde in Eleutherna, einer Stadt im Ge-
birge Westkretas, ein fast identisches

ui

Relief gefunden. Man fragt sich, wie
zwei so ähnliche Elfenbeine an diese bei-
den so entgegengesetzten Orte gelangen
können? War es ein Künstler, der beide
Reliefs verfertigte, und stammen die Re-
liefs von ein und demselben Objekt? Ob
die Reliefs von ionischen oder kretischen
Künstlern geschnitzt wurden, bleibt dabei
eine offene Frage.

Kretische Einflüsse in der
Architektur

Der Einfluß Kretas wird auch in der
realen Architektur des Artemisions greif-
bar. Die Beziehungen zu Kreta sind bis
heute nicht intensiv erforscht worden,
auffällig ist aber, daß die Architekten des
archaischen Baues, Chersiphron und Me-
tagenes, Kreter waren. Es muß etwas
bedeuten, daß man für einen marmornen
Großtempel in Ionien Architekten aus
Kreta holte, vor allem, da doch Kreta
selbst im 6. Jh. v. Chr. kein Zentrum der
archaischen Monumentalarchitektur war.
Hat etwa noch der Ruhm des ältesten und
berühmtesten kretischen Architekten und
Bildhauers, des Daidalos, diese Entschei-
dung beeinflußt?

Im Falle des Chersiphron und seines
Sohnes Metagenes können wir die Rich-
tung der Beeinflussung angeben, nämlich
von Kreta nach Ephesos. Ob dies in
jedem Fall so war, ist eine offene Frage,

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