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Die Söhne des Daidalos

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denn man kann nur schwer erklären, wie
eine ionische Großstadt wie Ephesos von
abgelegenen Gebirgsorten Kretas beein-
flußt worden sein könnte. Wenn man
auch für die Fundamentierung Theodo-
ros aus Samos heranholt (vgl. S. 47ff.),
so sind doch alle Innovationen, welche
den Marmorbau selbst betreffen, den bei-
den Kretern zuzuschreiben. Dies sind die
Erfindung einer neuen Transportmethode
für den Marmor (Abb. 54) und die Tech-
niken zum Heben des Marmors. Auch die
vertikalen Gußkanäle (Abb. 113) zum
Vergießen der Dübel (vgl. Naiskos des
Kroisostempels o. S. 53), die gegrate-
ten Kanneluren der Säulentrommeln und
die Oberflächenbearbeitung des Mar-
mors mit Randschlag und feinst auf-
gerauhtem Spiegel (Abb. 114) sind ein
Charakteristikum des archaischen Arte-
misions und vielleicht ebenfalls mit den
kretischen Architekten zu verbinden.

Aber auch der ephesische Peripteros
des 8. Jhs. v. Chr. ist typologisch gese-
hen die Synthese einer Ringhalle mit
einem kretischen Herdtempel. Die Cella
weist im Inneren eine Rechteckbasis auf,
die der Lage und Form nach mit den
Herdtempeln Kretas von Dreros und Pri-
nias übereinstimmt, wobei offen ist, ob
wir es dabei auch funktional gesehen mit

einem Herd zu tun haben. Die gedrun-
gene Cellaform des ephesischen Peripte-
ros erinnert ebenfalls an die Tempel von
Dreros und Prinias auf Kreta.

Die Zusammenhänge von Motiven und
stilistischen Elementen im Artemision
sind außerordentlich subtiler Natur und
können schwer mit herkömmlichen Mit-
teln beschrieben werden. Das Artemision
der früharchaischen Zeit muß als System
gesehen werden, ein System, das sich
durch kulturelle, rituelle und alimentäre
Vielfalt auszeichnete. Die Heterogenität
des Befundes im Artemison macht seine
Stärke aus, es ist eine Heterogenität, die
nicht nur Objekte verschiedener Her-
kunft nebeneinander zeigt, sondern sie
durchdringt auch die Objekte selbst. So
ist es oft schwer zu entscheiden, ob ein
Kunstwerk hethitisch, phönikisch, ägyp-
tisch oder phrygisch beeinflußt ist. Daher
ist all das, was hier als Einfluß bezeichnet
wird, eher Balance, Gleichgewicht zwi-
schen den Elementen von Kultur, Ritus
und Nahrung. Hier nimmt der Einfluß
Kretas eine besonders subtile Rolle ein.
Da die kretische Kunst der archaischen
Zeit selbst ein Konglomerat ist, ist ihr
Vorkommen innerhalb der Kunst des
Artemisions ein besonderes Beispiel für
sich überlagernde Vielfalt.

Kretische Funde aus dem Artemision

Außer der Architektur weisen auch einige
Kleinfunde aus dem Artemision nach
Kreta. In der Cella des Peripteros wurde
eine kleine Elfenbeinnachahmung eines
Kopfaryballos gefunden, der durch seine
schlauchförmige Gefäßform und den
Ritzdekor in Form von Dreiecksblät-
tern zwar Beziehungen zu ägyptischen
Fayencegefäßen aufweist (Abb. 112),
durch die Haartracht der sog. dädali-
schen Stufenperücke aber motivisch nach
Kreta weist. Auch ein gehämmertes win-
ziges Goldblech aus der Cella des Peri-
pteros mit der Darstellung einer nackten
stehenden Frau zeigt eine solche Stufen-
perücke (Abb. 85).

Ein weiterer Fund zeigt ebenfalls Be-
ziehungen zu Kreta: Hierbei handelt es
sich um eine Goldnadel, die an der
Außenseite des Tempels C (vgl. S. 44)
zutage kam. Der Nadelkopf trägt auf bei-
den Seiten dasselbe Gesicht. Das nach
vorne fallende Haar wird von zwei
Schnurbändern gehalten. Hier biegen die
ebenfalls wieder horizontal gegliederten
Locken nach außen um und sind unten
gerade abgeschnitten. Das Motiv der un-
teren horizontalen Kante bei den Haaren
findet sich auch bei einem kleinen Holz-
Kuros aus Samos, der ebenfalls dem kre-
tischen Kunstbereich zugewiesen worden
ist. Die beiden Bernsteinköpfe aus dem
Hortfund (vgl. S. 77) sind den Köpfen
der Großbronzen aus Dreros verwandt
(Abb. 90).

Auch bei einer goldenen Greifenpro-
tome ist ein motivischer Zusammenhang
mit Kreta gegeben. Phönikische und
orientalische Greifen weisen Locken auf,
die von der Stirn oder vom Nacken aus-
gehend als selbständige Körper nach
rückwärts fallen oder flattern, und so
sind auch die kretischen Greifen entwor-
fen. Aber auch Greifen und Sphingen auf
kretischen Reliefpithoi sowie diejeni-
gen auf mykenischen Wandmalereien
von Pylos weisen eine sich verästelnde,
flatternde Greifenlocke auf. Der älteste
Import aus Kreta dürfte aber die Doppel-
axt aus Bronze (Abb. 24) sein, welche
vielleicht aus der alten Palastzeit stammt.

Abb. 113 Vertikaler Gußkanal zum Vergie-
ßen des Dübels mit dem darunterliegenden
Steinblock. Aufdiese Weise können Öffnun-
gen an der Sichtfläche des Steines vermieden
werden.

Abb. 114 Unverwechselbare archaische Mar-
mortechnik, die beim Kroisostempel allge-
mein Verwendung fand. Hier ein Beispiel
vom Naiskos des Kroisostempels.

d.B. HEIDELBERQ
 
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