Stadt der Maria und des Johannes
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Das Ephesos, das sich heute dem Besu-
cher darbietet, ist eher eine Stadt der
Spätantike und der modernen Archäolo-
gie. Denn vor allem das, was von den
Archäologen ausgegraben und rekon-
struiert, somit also sichtbar gemacht
wurde, dringt in das Bewußsein des Tou-
risten. Dabei wird allerdings häufig über-
sehen, daß das ephesische Gebiet auch
noch im Mittelalter eine gewisse Rolle
gespielt hat. Vor allem nach der Erobe-
rung durch die Seldschuken entstand in
der Flur Ayasoluk eine bemerkenswerte
Ansammlung islamischer Bauwerke, die
auch heute noch den Stolz der Einwohner
des modernen Selguk darstellen. Die
Grabeskirche der Maria auf dem Aladag
und das bis 1922 von orthodoxen Grie-
chen bewohnte alte Dorf Kirkindje, heute
§irince, haben bis in das 20. Jh. die antik-
christliche Tradition bewahrt.
Auch nach der Zerstörung der Stadt
Ephesos und ihres ältesten Tempels bleibt
ihre Ausstrahlung bis in das mittelalter-
liche Europa bestehen. Dennoch ist es ein
faszinierendes Phänomen zu sehen, wie
an diesem Ort verschiedene Kulturen auf-
einanderfolgten. Handelt es sich dabei
um Kontinuitäten oder Diskontinuitäten?
Lebt die Tradition sichtbar weiter, oder
wird die Vergangenheit verdrängt und als
Spolie vernichtet?
Das Artemision ist das älteste Heilig-
tum in Ephesos und geht vermutlich auf
minoisch-mykenische Ursprünge zurück.
Aber es erhält manche seiner Traditionen
bis in unser Jahrtausend hinein. So wur-
den die Mäander des Altares des Artemi-
sions, die das minoische Labyrinth sym-
bolisieren (Abb. 78), im 14. Jh. n. Chr.
sichtbar in der Isa Bey-Moschee verbaut.
Dies ist nur ein Hinweis darauf, auf welche
Weise die Archäologie einen Beitrag zum
Verstehen von Kulturen liefern kann.
Denn die Archäologie selbst ist wie die
Medizin eine Kunst; sie übernimmt zwar
wie diese wissenschaftliche Methoden
und Ergebnisse, ihr Versuch aber, ganze
Kulturen zu rekonstruieren, ist ein kreati-
ver, künstlerischer Vorgang.
Abb. 3 Marmorstatue der Artemis Ephe-
sia. Es handelt sich um eine friihe und
besonders altertümlich wirkende Nachbil-
dung der Kultstatue. Die sog. Briiste sind
hier besonders tief angebracht, was G. Sei-
terle aufden Gedanken der modemen Nach-
bildung der Statue mit Stierbeuteln brachte
(vgl. Frontispiz). Höhe der Figur: 70 cm;
1. Jh. v. Chr. Basel, Antikenmuseum.
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Das Ephesos, das sich heute dem Besu-
cher darbietet, ist eher eine Stadt der
Spätantike und der modernen Archäolo-
gie. Denn vor allem das, was von den
Archäologen ausgegraben und rekon-
struiert, somit also sichtbar gemacht
wurde, dringt in das Bewußsein des Tou-
risten. Dabei wird allerdings häufig über-
sehen, daß das ephesische Gebiet auch
noch im Mittelalter eine gewisse Rolle
gespielt hat. Vor allem nach der Erobe-
rung durch die Seldschuken entstand in
der Flur Ayasoluk eine bemerkenswerte
Ansammlung islamischer Bauwerke, die
auch heute noch den Stolz der Einwohner
des modernen Selguk darstellen. Die
Grabeskirche der Maria auf dem Aladag
und das bis 1922 von orthodoxen Grie-
chen bewohnte alte Dorf Kirkindje, heute
§irince, haben bis in das 20. Jh. die antik-
christliche Tradition bewahrt.
Auch nach der Zerstörung der Stadt
Ephesos und ihres ältesten Tempels bleibt
ihre Ausstrahlung bis in das mittelalter-
liche Europa bestehen. Dennoch ist es ein
faszinierendes Phänomen zu sehen, wie
an diesem Ort verschiedene Kulturen auf-
einanderfolgten. Handelt es sich dabei
um Kontinuitäten oder Diskontinuitäten?
Lebt die Tradition sichtbar weiter, oder
wird die Vergangenheit verdrängt und als
Spolie vernichtet?
Das Artemision ist das älteste Heilig-
tum in Ephesos und geht vermutlich auf
minoisch-mykenische Ursprünge zurück.
Aber es erhält manche seiner Traditionen
bis in unser Jahrtausend hinein. So wur-
den die Mäander des Altares des Artemi-
sions, die das minoische Labyrinth sym-
bolisieren (Abb. 78), im 14. Jh. n. Chr.
sichtbar in der Isa Bey-Moschee verbaut.
Dies ist nur ein Hinweis darauf, auf welche
Weise die Archäologie einen Beitrag zum
Verstehen von Kulturen liefern kann.
Denn die Archäologie selbst ist wie die
Medizin eine Kunst; sie übernimmt zwar
wie diese wissenschaftliche Methoden
und Ergebnisse, ihr Versuch aber, ganze
Kulturen zu rekonstruieren, ist ein kreati-
ver, künstlerischer Vorgang.
Abb. 3 Marmorstatue der Artemis Ephe-
sia. Es handelt sich um eine friihe und
besonders altertümlich wirkende Nachbil-
dung der Kultstatue. Die sog. Briiste sind
hier besonders tief angebracht, was G. Sei-
terle aufden Gedanken der modemen Nach-
bildung der Statue mit Stierbeuteln brachte
(vgl. Frontispiz). Höhe der Figur: 70 cm;
1. Jh. v. Chr. Basel, Antikenmuseum.
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