38
lonische Architektur
Peripteros liegt nicht im Säulenkranz,
sondern in der Ausbildung einer Cella
bzw. der inneren Säulenreihen. Der Säu-
lenkranz selbst ist die für beide charakte-
ristische und unveränderliche Form.
Der Vor-Peripteros
Der Peripteros des 8. Jhs. v. Chr. mit
Cella und Peristase kann nicht der älteste
Bau an dieser Stelle gewesen sein. Die
Außen- und Innensäulen sind nämlich
älter als die Cellamauern selbst. Welche
Konstruktion anstelle der rechteckigen
Cella gestanden hat, ist nicht eindeutig zu
klären. Die inneren sechs Säulen des
späteren Baldachinfundamentes könnten
allerdings auch den Restbestand einer
dreischiffigen Anlage abgeben. Die ver-
mutliche Erfindung der peripteralen
Form in Ionien im 8. Jh. v. Chr. macht es
notwendig, diese frühe ionische Archi-
tektur in Zusammenhang mit der frühen
ionischen Naturwissenschaft zu diskutie-
ren. Offenbar sind sowohl die peripterale
Form als auch die baldachinförmige Ar-
chitekmr für Kultbauten entworfen wor-
den (Abb. 38). Wir können auch sagen,
daß die frühen Heiligtümer sich nicht
allein aus der Notwendigkeit der Überda-
chung eines Kultplatzes verstehen lassen,
sondern Teil des Kultes selbst waren.
Eine mathematisch entworfene Konstruk-
tion wie der ephesische Peripteros weist
keine später von außen hinzugefügten
Säulen auf, sondern die Säulenstellung
wird durch die innere Organisation der
Architekmr bestimmt und folgt damit
einem autonomen Prinzip. Die peri-
pterale Säulenstellung stellt auch ein sich
selbst regulierendes System an Säulen
dar. Denn die Abstände der Säulen kön-
nen nicht beliebig variieren. Der Peri-
pteros als Ganzes ist Ausdruck eines
exakten architektonischen Entwurfes, der
kein Vorbild in der Natur aufweist. Der
ephesische Peripteros, der in die 2. Hälfte
des 8. Jhs., also die Zeit Homers, zu da-
tieren ist, nimmt aber ein Ideengut vor-
weg, das uns nur aus einer späteren Zeit
bekannt ist, nämlich aus dem 6. Jh.
v. Chr. Homer führt das Naturgeschehen
auf göttliche Eingriffe zurück. Nichts,
was geschieht, hat eine natürliche Ursa-
che. Wann immer es ihnen beliebte, straf-
ten die Götter durch Erdbeben und Un-
wetter oder schickten am hellichten Tage
die Sonne ins Meer. Hinter dem Aufkom-
men des Windes oder dem Zerbrechen
einer Lanze schienen Götter zu stehen.
Die Frage nach dem wie in der Natur
stellte sich für Homer nicht. Zu erklären
war, in welcher Absicht etwas geschah.
Der Sänger und sein Publikum wollten
wissen, was die Götter vorhatten, wenn
sich die Sonne verfinsterte oder ein Pfeil
sein Ziel verfehlte. Ebensowenig wie die
Natur ihren eigenen inneren Gesetz-
mäßigkeiten zu folgen schien, glaubten
die Menschen, frei zu entscheiden und zu
handeln. Wie die Natur waren auch sie
von außen gelenkt.
Dagegen war es die in den fragmenta-
risch erhaltenen Schriften überlieferte
Vorstellung der ionischen Naturphiloso-
phen des 6. Jhs. v. Chr. wie Thales und
Anaximander, daß im Kosmos Ordnung
herrsche: An die Stelle der Annahme,
Götter herrschten willkürlich über die
Naturkräfte, war die Vorstellung von
einer Weltnorm getreten, einer Gesetz-
mäßigkeit, die sich in allem Geschehen
äußerte. Anstelle der Willkür im Welt-
38
Geschehen war eine erklärbare Logik
und Regelmäßigkeit getreten.
Der Ringhallentempel, der Peripteros,
mit seiner regelmäßigen Aufeinander-
folge von Säulen an allen Seiten ist der
unmittelbare Ausdruck von Ordnung und
Regelmäßigkeit. Der Peripteros versinn-
bildlicht dieselbe Ordnung, wie sie die
Naturphilosophie in der vom Menschen
gestalteten politischen Welt und der
Natur sah.
Für unsere Überlegungen existiert al-
lerdings ein zeitliches Problem: Was wir
hier an der Architektur abgelesen haben,
spielte sich im 8. Jh. v. Chr. ab, während
die entsprechenden literarischen Nach-
richten erst von Philosophen des 6. Jhs.
v. Chr. stammen. Ob diese zeitliche Dis-
krepanz damit erklärt werden kann, daß
die auf göttlicher Willkür aufgebaute
Welt Homers neben einer anderen, bis-
lang unbekannten Welt der Handwerker,
Architekten, Seefahrer stand, die einen
Kosmos kannte, der auch rational organi-
siert war, ist eine noch offene Frage.
Abb. 37 Peripteros von Nord-Westen. A:
Griinschieferbasis einer westlichen Front-
säule des Peripteros. B: Fundament zur Er-
höhung und Verstärkung des Säulenum-
ganges wegen der Uberschwemmungen
(Flankenmauer). C: Cellamauer des Peripte-
ros. D: Quermauer aus Griinschieferspo-
lien, errichtet im 6. Jh. v. Chr. ßir den Kroi-
sosnaiskos. E: Altarfiir den Kroisosnaiskos.
Abb. 38 Schematische Rekonstruktion des
Peripteros mit Säulenumgang, Flachdach,
offenem Hof und Baldachin im Inneren des
Hofes.
lonische Architektur
Peripteros liegt nicht im Säulenkranz,
sondern in der Ausbildung einer Cella
bzw. der inneren Säulenreihen. Der Säu-
lenkranz selbst ist die für beide charakte-
ristische und unveränderliche Form.
Der Vor-Peripteros
Der Peripteros des 8. Jhs. v. Chr. mit
Cella und Peristase kann nicht der älteste
Bau an dieser Stelle gewesen sein. Die
Außen- und Innensäulen sind nämlich
älter als die Cellamauern selbst. Welche
Konstruktion anstelle der rechteckigen
Cella gestanden hat, ist nicht eindeutig zu
klären. Die inneren sechs Säulen des
späteren Baldachinfundamentes könnten
allerdings auch den Restbestand einer
dreischiffigen Anlage abgeben. Die ver-
mutliche Erfindung der peripteralen
Form in Ionien im 8. Jh. v. Chr. macht es
notwendig, diese frühe ionische Archi-
tektur in Zusammenhang mit der frühen
ionischen Naturwissenschaft zu diskutie-
ren. Offenbar sind sowohl die peripterale
Form als auch die baldachinförmige Ar-
chitekmr für Kultbauten entworfen wor-
den (Abb. 38). Wir können auch sagen,
daß die frühen Heiligtümer sich nicht
allein aus der Notwendigkeit der Überda-
chung eines Kultplatzes verstehen lassen,
sondern Teil des Kultes selbst waren.
Eine mathematisch entworfene Konstruk-
tion wie der ephesische Peripteros weist
keine später von außen hinzugefügten
Säulen auf, sondern die Säulenstellung
wird durch die innere Organisation der
Architekmr bestimmt und folgt damit
einem autonomen Prinzip. Die peri-
pterale Säulenstellung stellt auch ein sich
selbst regulierendes System an Säulen
dar. Denn die Abstände der Säulen kön-
nen nicht beliebig variieren. Der Peri-
pteros als Ganzes ist Ausdruck eines
exakten architektonischen Entwurfes, der
kein Vorbild in der Natur aufweist. Der
ephesische Peripteros, der in die 2. Hälfte
des 8. Jhs., also die Zeit Homers, zu da-
tieren ist, nimmt aber ein Ideengut vor-
weg, das uns nur aus einer späteren Zeit
bekannt ist, nämlich aus dem 6. Jh.
v. Chr. Homer führt das Naturgeschehen
auf göttliche Eingriffe zurück. Nichts,
was geschieht, hat eine natürliche Ursa-
che. Wann immer es ihnen beliebte, straf-
ten die Götter durch Erdbeben und Un-
wetter oder schickten am hellichten Tage
die Sonne ins Meer. Hinter dem Aufkom-
men des Windes oder dem Zerbrechen
einer Lanze schienen Götter zu stehen.
Die Frage nach dem wie in der Natur
stellte sich für Homer nicht. Zu erklären
war, in welcher Absicht etwas geschah.
Der Sänger und sein Publikum wollten
wissen, was die Götter vorhatten, wenn
sich die Sonne verfinsterte oder ein Pfeil
sein Ziel verfehlte. Ebensowenig wie die
Natur ihren eigenen inneren Gesetz-
mäßigkeiten zu folgen schien, glaubten
die Menschen, frei zu entscheiden und zu
handeln. Wie die Natur waren auch sie
von außen gelenkt.
Dagegen war es die in den fragmenta-
risch erhaltenen Schriften überlieferte
Vorstellung der ionischen Naturphiloso-
phen des 6. Jhs. v. Chr. wie Thales und
Anaximander, daß im Kosmos Ordnung
herrsche: An die Stelle der Annahme,
Götter herrschten willkürlich über die
Naturkräfte, war die Vorstellung von
einer Weltnorm getreten, einer Gesetz-
mäßigkeit, die sich in allem Geschehen
äußerte. Anstelle der Willkür im Welt-
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Geschehen war eine erklärbare Logik
und Regelmäßigkeit getreten.
Der Ringhallentempel, der Peripteros,
mit seiner regelmäßigen Aufeinander-
folge von Säulen an allen Seiten ist der
unmittelbare Ausdruck von Ordnung und
Regelmäßigkeit. Der Peripteros versinn-
bildlicht dieselbe Ordnung, wie sie die
Naturphilosophie in der vom Menschen
gestalteten politischen Welt und der
Natur sah.
Für unsere Überlegungen existiert al-
lerdings ein zeitliches Problem: Was wir
hier an der Architektur abgelesen haben,
spielte sich im 8. Jh. v. Chr. ab, während
die entsprechenden literarischen Nach-
richten erst von Philosophen des 6. Jhs.
v. Chr. stammen. Ob diese zeitliche Dis-
krepanz damit erklärt werden kann, daß
die auf göttlicher Willkür aufgebaute
Welt Homers neben einer anderen, bis-
lang unbekannten Welt der Handwerker,
Architekten, Seefahrer stand, die einen
Kosmos kannte, der auch rational organi-
siert war, ist eine noch offene Frage.
Abb. 37 Peripteros von Nord-Westen. A:
Griinschieferbasis einer westlichen Front-
säule des Peripteros. B: Fundament zur Er-
höhung und Verstärkung des Säulenum-
ganges wegen der Uberschwemmungen
(Flankenmauer). C: Cellamauer des Peripte-
ros. D: Quermauer aus Griinschieferspo-
lien, errichtet im 6. Jh. v. Chr. ßir den Kroi-
sosnaiskos. E: Altarfiir den Kroisosnaiskos.
Abb. 38 Schematische Rekonstruktion des
Peripteros mit Säulenumgang, Flachdach,
offenem Hof und Baldachin im Inneren des
Hofes.