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Bastine, Reiner [Hrsg.]
Klinische Psychologie (Band 1): Grundlegung der allgemeinen klinischen Psychologie — Stuttgart, Berlin, Köln, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.16129#0018

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1 Überblick und Gegenstandsbestimmung

1.1 Historische Entwicklung der modernen Klinischen Psychologie

Wie rückten die Inhalte und Aufgaben der Klinische Psychologie ins öffentliche Interesse? Wo liegen
die Wurzeln der heutigen strukturellen Merkmale des Faches und wie veränderten sich die Schwer-
punkte über die Jahrzehnte? Diesen Fragen wollen wir uns als Einstieg in die Beschäftigung mit der
Klinischen Psychologie zuwenden.

Zunächst werden die wissenschaftlichen und berufspraktischen Anstöße, die als Begründung der
Klinischen Psychologie gelten und mit den Namen Lightner Witmer, Emil Kraepelin und Sigmund
Freud verbunden sind, vorgestellt {•=> 1.1.1). Danach wird gezeigt, daß zu Beginn der Entwicklung
der Klinischen Psychologie die Psychodiagnostik prägend war, die später immer stärker von der
Psychotherapie abgelöst wurde {<=> 1.1.2). Hierbei werden vor allem die institutionellen Korrelate
herausgearbeitet. Auch das Konzept der Pathopsychologie entstand schon zur Gründungzeit und
unterlag vielfältigen Wandlungen. Eine weitere Darstellung sind den Strömungen und Entwick-
lungstendenzen des Faches in den USA und Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg gewidmet.

Eines der Ziele einer Wissenschaftsgeschichte ist es, aus der historischen Betrachtung
eines Faches die heutigen Schwerpunkte und Auffassungen besser verstehen und einord-
nen zu können. Dies ist auch das Ziel dieses einleitenden Abschnitts, der zu einer Ge-
genstandsbestimmung der Klinischen Psychologie (<=> 1.2) hinführen soll.

1.1.1 Gründungszeit

Sollte man eine Jahreszahl für den Beginn und einen Namen für den Begründer der mo-
dernen Klinischen Psychologie angeben, wären wohl das Jahr 1896 und der amerikani-
sche Psychologe Lightner Witmer (1867-1956) zu nennen.

Name und Datum überraschen, denn man hätte sicherlich eher an prominentere Na-
men wie Sigmund Freud oder Emil Kraepelin gedacht, die in der Tat ebenfalls zur Be-
gründung der modernen Klinischen Psychologie beigetragen haben. Deutschsprachigen
Lesern ist Witmer dagegen fast vollständig unbekannt, obwohl er als erster die Begriffe
Klinische Psychologie, Psychologische Klinik oder auch Klinische Methode geprägt
und in die amerikanische Psychologie eingeführt hat, von der aus sie dann internationale
Anerkennung und Verbreitung fanden. Witmer, der 1892 bei Wilhelm Wundt in Leipzig
promoviert hatte und Nachfolger von J. McKeen Cattell an der University of Pennsyl-
vania wurde, richtete im Jahre 1896 die erste „Psychologische Klinik" in Philadelphia
ein und behandelte dort Kinder mit sprachlichen Retardierungen, Lernbehinderungen,
schulischen und anderen Erziehungsproblemen. Seine Behandlungen waren vorwiegend
pädagogisch orientiert („psychologische Orthogenetik"), wurden häufig in Zusammenar-
beit mit den Lehrerinnen der Kinder durchgeführt und erfolgten erst nach sehr gründli-
chen psychodiagnostischen Voruntersuchungen. In diesen ging er unter anderem der
Frage nach, ob und inwieweit die Verhaltensschwierigkeiten der Kinder auf organische

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