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Bastine, Reiner [Hrsg.]
Klinische Psychologie (Band 1): Grundlegung der allgemeinen klinischen Psychologie — Stuttgart, Berlin, Köln, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.16129#0166

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3 Definition psychischer Störungen

3.1 Was sind psychische Störungen?

Welche Anforderungen werden an die Definition psychischer Störungen gestellt? Psychische Stö-
rungen sind ja nicht nur ein wissenschaftlich interessantes Phänomen, sondern sie spielen auch
eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der psychosozialen Gesundheitsversorgung, der Beurteilung
der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit sowie in der Rechtssprechung. Daher werden an den Begriff ganz
verschiedene Anforderungen gestellt; in seine Definition fließen sowohl wissenschaftliche wie auch
sozial wertende (normative) Aspekte ein.

In diesem Kapitel werden zunächst die wichtigsten theoretischen Perspektiven und Definitions-
ansätze über psychische Störungen vorgestellt - psychische Störung als Krankheit, soziologische
und sozialpsychologische Perspektiven, die interaktionistische Perspektive, die Position der An-
tipsychiathe, die familientherapeutische I systemische Konzeption sowie die Sichtweise der Sozialen
Lerntheorie 2.1.1).

In dem folgenden Abschnitt werden wir uns dann einerseits mit den charakteristischen Merkmalen
psychischer Störungen, andererseits mit der wissenschaftlichen Konzeptualisierung des Gegen-
teils psychischer Störungen beschäftigen. Da uns ein geeigneter Gegenbegriff zur psychischen Stö-
rung fehlt, behelfen wir uns oft mit umständlichen Umschreibungen wie „psychischer Intaktheit" oder
einfach „Normalität", obwohl diese Bezeichnungen auch nicht unproblematisch sind. Wissenschaft-
lich hat sich dafür heute der Begriff der „psychischen Gesundheit" etabliert (<=> 2.1.2).
Zum Abschluß wird auf die Einstellungen gegenüber psychisch Gestörten und deren Gefähr-
lichkeit eingegangen (<=> 2.1.2).

,, Was ist psychisch abnorm oder psychisch gestört? " Die Antwort auf diese Frage ist
nicht nur für die Klinische Psychologie interessant, sondern sie ist auch die Grundlage
für viele andere Entscheidungen in unserer Gesellschaft: Die Einrichtungen der psycho-
sozialen Gesundheitsversorgung - etwa Gesetzgeber, gesetzliche und private Kranken-
versicherung, ambulante und stationäre Dienste - benötigen Daten über das Auftreten
und die Verbreitung psychischer Störungen, um die sachgerechte Behandlung und Ver-
sorgung dieser Personen zu gewährleisten. Zugleich ist die Beurteilung der Arbeits- und
Erwerbsfähigkeit sowie der Berentung oftmals abhängig davon, ob jemand psychisch in
der Lage ist, die an ihn gestellten Anforderungen im Beruf zu erfüllen. Im Rechtswesen
erscheint ein Straftäter nicht oder nur vermindert schuldhaft, wenn er „wegen einer
krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder
wegen Schwachsinn oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das
Umecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln" (§§20 und 21 StGB).
Wenn eine psychisch gestörte Person straffällig geworden ist oder andere gefährdet,
wird sie ihrer persönlichen und sozialen Verantwortung in unterschiedlichem Ausmaß
enthoben, indem sie in Verwahrung genommen wird. Diese rechts staatliche Maßnahme
dient dem Schutz der Bürger und der Betroffenen; andererseits können solche Maßnah-
men aber auch zur Stabilisierung von Macht- und Herrschaftssystemen mißbraucht wer-
den. Damit dient die Diagnose einer psychischen Störung in außerfachlichen Zusam-
menhängen ganz unterschiedlichen Zwecken, unter anderem der Zuweisung zu einer

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