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Bastine, Reiner [Hrsg.]
Klinische Psychologie (Band 1): Grundlegung der allgemeinen klinischen Psychologie — Stuttgart, Berlin, Köln, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.16129#0266

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5 Zur Entstehung von psychischen Störungen

5.1 Kausalkonzepte psychologischer Störungstheorien

Wie die Entstehung psychischer Störungen erklärt wird und welche Bedingungen deren Verlauf be-
stimmen, beeinflußt auch des therapeutische Handeln. In diesem Kapitel werden wir die grundle-
genden Kausalvorstellungen für psychologische Störungstheorien kennenlernen.
Der erste Abschnitt über Kausalitätsmodelle (<=> 5.1.1) behandelt verschiedene Vorstellungen der
Kausalität psychischer Störungen, insbesondere das Haupteffektmodell, das Interaktionsmodell und
das Transaktionsmodell. Die Annahme komplexer und dynamischer Kausalbeziehungen ist die für
psychologische Störungstheorien adäquateste Kausalvorstellung. Anschliessend wird die Entste-
hung psychischer Störungen als ein Entwicklungsprozess dargestellt, der sich über verschiedene
Phasen erstreckt {•=> 5.1.2). Im Mittelpunkt steht dabei die klassische Einteilung in disponierende,
auslösende und stabilisierende Bedingungen sowie die Forschungsprogramme der Entwick-
lungspsychopathologie und des Vulnerabilitäts-Streß-Modells.

Unsere Annahmen über die Ursachen psychischer Störungen beeinflussen in vielerlei
Weise das Herangehen an deren Analyse, Behandlung und Erforschung. Wenn wir die
Ursachen von Störungen verstehen, können wir die künftige psychische Entwicklung ei-
ner Person prognostizieren, das Einwirken pathogener Faktoren verhindern und recht-
zeitig geeignete Behandlungen einleiten. In der Behandlung selbst gehen wir meistens
von bestimmten Annahmen über die Ursachen einer Störung aus - etwa wenn wir die
Kontrollüberzeugungen einer depressiven Patientin oder die Familieninteraktionen einer
jugendlichen Anorektikerin zu verändern versuchen. Die Entstehung psychischer Stö-
rungen zu erklären, ist daher eines der wichtigsten Themen der Klinischen Psychologie.
Zugleich ist die Suche nach den Entstehungsbedingungen wohl ihr schwierigster und am
meisten herausfordernder Forschungsbereich: Zunächst ist die Kausalanalyse von lang-
jährigen Entstehungsprozessen und von komplexen, sich wechselseitig beeinflussenden
Bedingungen forschungsmethodisch außerordentlich schwierig. Außerdem ist es nicht
einfach, sich in diesem Bereich zu orientieren, da es eine kaum überblickbare Zahl von
divergierenden, mehr und weniger gut begründeten Theorien über die Entstehung psy-
chischer Störungen gibt. Die Störungstheorien unterscheiden sich bereits in ihren Gel-
tungsansprüchen, d.h. in der Reichweite des behaupteten Erklärungspotentials. In älteren
Theorien wird eher ein universaler Geltungsanspruch vertreten (d.h. sie versuchen, die
Entstehung sämtlicher psychischer Störungen zu erklären), während in jüngeren vorwie-
gend störungsspezifische Forschungsprogramme entwickelt werden, die „nur noch" die
Entstehung bestimmter Störungen zum Ziel haben (z.B. die Entstehung von Phobien,
Depression, Eßstörungen oder Schizophrenie). Der Trend zu diesen speziellen Störungs-
theorien erlaubt natürlich wesentlich präzisere Annahmen über die Entstehungsbedin-
gungen von Störungen, die sich außerdem leichter empirisch überprüfen lassen als die
umfassenden Erklärungsmodelle. Gleichzeitig bleiben dadurch aber auch die Gemein-
samkeiten und Unterschiede verschiedener Störungserklärungen oftmals im Unklaren.

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